Preise:Sie steigen! Nein, sie fallen!

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Viele Geschäfte bleiben derzeit geschlossen. Eingekauft wird trotzdem, vor allem in Online-Shops. Dabei ärgert sich so mancher Käufer über steigende Preise. (Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Jeder Verbraucher empfindet die Geldentwertung im Wirtschaftsleben anders. Objektive Messungen stoßen an ihre Grenzen. Das wird in der Corona-Krise besonders deutlich.

Von Markus Zydra, Frankfurt

Steigen die Preise? Es kommt darauf an, wen man fragt. Und was man kauft. Jede Hausfrau wisse mehr über die Kaufkraft des Geldes, als es offizielle Statistiken je mitteilen könnten, meinte der österreichisch-amerikanische Ökonom Ludwig von Mises. Doch um ein gesamtwirtschaftliches Bild zu erhalten, kann man unmöglich jeden einzelnen Verbraucher fragen. Deshalb gibt es die Statistikbehörde Eurostat. Sie führt Informationen aus den 19 Euro-Mitgliedstaaten zusammen, wo die Preisveränderungen Tausender Güter und Dienstleistungen in einem fiktiven Warenkorb gemessen werden. Die monatlich veröffentlichte Inflationsrate soll Objektivität schaffen in einem sehr subjektiven Erfahrungsbereich.

Nun hat die Europäische Zentralbank in einem Aufsatz die Aussagekraft dieser offiziellen Messung infrage gestellt. Durch die vielen Schließungen von Betrieben in der Corona-Krise hätte sich das Konsumverhalten der Menschen verändert. Beispielsweise sei weniger gereist worden, weshalb die zuletzt gesunkenen Energiepreise sich auf den Geldbeutel weniger ausgewirkt hätten. Gleichzeitig sei die Nachfrage nach Nahrungsmitteln im Vergleich zu vorher gestiegen, wobei die Preise für Milch, Käse und Gemüse deutlich gestiegen sind. Dadurch, so die EZB, spiegele der offizielle Inflationsindex von Eurostat nicht mehr die Realität von Europas Konsumenten wider. Die Inflationsrate sei in Wahrheit ungefähr 0,2 Prozentpunkte höher als offiziell gemessen.

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Die kleine Differenz kann große Implikationen haben, denn die Höhe der Teuerungsrate in der Euro-Zone sollte offiziell darüber entscheiden, ob die EZB eine lockere oder straffe Geldpolitik macht. Die Notenbank strebt rund zwei Prozent Inflation an, ein Ziel, das sie seit vielen Jahren verfehlt. In den letzten drei Monaten fielen die Preise sogar, im November um 0,3 Prozent. Anhaltend sinkende Preise können in eine Deflation münden, die bei der EZB als gefährlich für die Wirtschaftsentwicklung eingeschätzt wird. Somit machen die 0,2 Prozentpunkte einen Unterschied für die Notenbank, nämlich ob man in einer Welt mit so eben noch akzeptabler Nullinflation oder drohender Deflation lebt.

Offenbar denken viele Bürger: Was messen die denn da bei Eurostat?

Die offizielle Messung der Inflation ist in der Bevölkerung umstritten. Die EU-Kommission hat in ihren regelmäßigen Umfragen festgestellt, dass die Bürger die Teuerungsraten als viel höher empfinden, als es die EU-Statistikbehörde Eurostat ausweist. So lag die offizielle Teuerungsrate 2019 bei einem Prozent, die Menschen taxierten ihre gefühlte Inflation jedoch auf rund sechs Prozent. Bei dieser Inflationsrate hätte die EZB ihre Nullzinspolitik längst beenden müssen. Offenbar denken viele Bürger: Was messen die denn da bei Eurostat? Diese unterschiedliche Wahrnehmung kann langfristig das Vertrauen in die Notenbank untergraben. Schon nach der Währungsumstellung von der D-Mark auf den Euro 2002 beklagten viele Deutsche, dass sich die Preise über Nacht fast verdoppelt hätten. Doch die offiziellen Statistiken wiesen diese Teuerung nicht aus.

Die Messungen der Statistiker decken sich auch bei den Wohnkosten immer weniger mit der Realität der Verbraucher. Die Häuserpreise sind zwischen 2015 und 2020 in den Großstädten um bis zu 50 Prozent gestiegen, und wer umzog, merkte: Auch die Mieten zogen deutlich an. Große Teile der Bevölkerung müssen fast die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aufbringen, meldet das Statistische Bundesamt. Doch im Inflationswarenkorb der Euro-Behörden sind diese Preiserhöhungen zu gering gewichtet, vor allem die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum. Das Problem ist den Verantwortlichen seit Langem bekannt.

Seit der Finanzkrise sinkt die Inflation immer weiter

Dazu kommt der Vorwurf, die Inflationsmessung verschleiere die zunehmende Ungleichheit bei der Wohlstandsverteilung: "Die Preissteigerungen in Europa gingen in den letzten Jahren zulasten ärmerer Menschen, aber die offizielle Inflationsrate drückt diesen Effekt nicht aus", sagt Alfons Weichenrieder, Professor für Finanzwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt. In seiner Studie, die sich auf die Jahre 2001 bis 2015 bezieht, stellte Weichenrieder fest, dass notwendige Ausgaben, zum Beispiel für Nahrung, Mieten und Energie, bei weniger finanzkräftigen Familien einen größeren Anteil ihres Budgets ausmachen als bei reicheren Familien. Wenn die Preise für solche Güter stärker stiegen als die von Luxusprodukten, führe dies dazu, dass Haushalte mit geringen Einkommen höhere Preissteigerungen auf ihren individuellen Warenkorb hinnehmen müssten. Bei der Messung für Deutschland kam heraus, dass sich die Warenkörbe der nach Einkommen unteren zehn Prozent der Bevölkerung um etwa 4,5 Prozent stärker verteuerten als die Warenkörbe der nach Einkommen oberen zehn Prozent.

Die Notenbanken der Industriestaaten stecken in einem Dilemma. Früher, vor 30 Jahren, traten die Währungshüter an, um die Preissteigerungen zu dämpfen. Damals waren acht Prozent Teuerung pro Jahr keine Seltenheit. Den Preisdruck auf zwei Prozent einzuhegen, schien eine gute Idee zu sein. Neuseelands Zentralbank machte 1989 den Anfang, die allermeisten Notenbanken folgten diesem Beispiel. Doch seit der Finanzkrise sinkt die Inflation immer weiter. Die Gründe sind vielfältig: Viele Menschen sparen mehr als früher, die Löhne steigen nicht stark genug, und auch die Globalisierung sowie der technische Fortschritt halten die Inflationsraten im Zaum. Das Ziel-Regime von zwei Prozent steht deshalb infrage. Was tun? Man könnte das Ziel bei null Prozent fixieren. Dann müsste man aber die lockere Geldpolitik beenden. Doch will man das? Die westlichen Industriestaaten brauchen die Nullzinsen, um ihre Verbindlichkeiten zu stemmen. Oder aber die Notenbanken lassen mehr Inflation zu als die zwei Prozent, zumindest zeitweise. Mit diesem Paradigmenwechsel versucht die amerikanische Fed, die Inflationserwartungen der Firmen und Haushalte nach oben zu treiben.

Manche Experten erwarten, dass die neuerliche Geldschwemme infolge der Corona-Krise auch offiziell zu höheren Preisen führen könnte. Doch bei all diesen Debatten bleibt die Frage: Wie sollen Währungshüter nachvollziehbar rechtfertigen, dass sie inzwischen für Inflation kämpfen und nicht mehr dagegen?

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