Christine Lagarde hat der französischen Samstagsbeilage Madame Figaro neulich ein Interview gegeben, in dem es um Frauenrechte, Umweltpolitik, die Ukraine und ihre große Verantwortung als EZB-Präsidentin ging - ein Thema fehlte jedoch: die Geldpolitik und die Frage, wie sie die rekordhohe Inflation in der Euro-Zone bekämpfen möchte. Man muss die Auslassung nicht überbewerten, aber sie zeigt, dass Lagarde gerade wohl lieber über andere Themen spricht.
Dabei plagt viele Menschen derzeit nur eines: die hohen Preise, deren Bekämpfung das Kerngeschäft der Zentralbank ist. Im August betrug die Inflationsrate in der Euro-Zone 9,1 Prozent. Das war ein erneuter Rekordwert für die Währungsunion. Einige Experten erwarten, dass die Teuerungsrate aufgrund der Energieknappheit in diesem Jahr zweistellig ausfallen wird. In dieser Situation sollte die Notenbank die Geldpolitik straffen.
Daher wunderten sich einige Beobachter, dass Lagarde in den vergangenen Sommerwochen nichts zu weiteren Zinserhöhungen gesagt hatte und auch dem renommierten Notenbankertreffen im amerikanischen Jackson Hole ferngeblieben war. Statt ihrer warnte die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel vor dem drohenden Vertrauensverlust der Bürger, sollte man die Inflation nicht mit "starker Entschlossenheit" bekämpfen.
Am Donnerstag entscheidet der EZB-Rat über die weitere Straffung der Geldversorgung. Man erwartet, dass die Währungshüter den Leitzins mindestens um 0,5, wenn nicht sogar um 0,75 Prozentpunkte anheben werden. Im Juli hatte die Notenbank erstmals seit elf Jahren den Leitzins erhöht - um einen halben Prozentpunkt. Gleichzeitig beendete sie das Anleihekaufprogramm, um nicht mehr billiges Geld auf den Markt zu bringen. Gleichwohl investiert die EZB die Erlöse aus fälligen Anleihen wieder in den Markt.
Die EZB hat die Zinswende im Vergleich zu anderen Zentralbanken sehr spät eingeleitet. Lange Zeit gingen Europas Währungshüter davon aus, dass der Inflationsschub vorübergehend sei. Inzwischen gilt es als sicher, dass auch im nächsten Jahr der Preisanstieg in der Euro-Zone deutlich über dem Ziel von zwei Prozent liegen wird. Dazu kommt: In aller Regel dauert es zwölf bis 18 Monate, bevor Zinserhöhungen wirken, also bevor die Nachfrage so stark verringert wird, dass sich das Preisniveau stabilisiert. Gleichzeitig verspricht die Notenbank den Bürgern auf ihrer Homepage: "Wir sorgen für stabile Preise und sicheres Geld." Sollte sich die hohe Inflation über ein oder mehrere Jahre fortsetzen, steht das Vertrauen in die Institution auf dem Spiel, denn vor allem Haushalte mit geringen Einkommen müssen angesichts der massiv steigenden Lebenshaltungskosten um ihre Existenz fürchten.
Die EZB selbst gibt Fehler in ihren Prognosen zu
Natürlich ist die EZB nicht für die Verwerfungen an den Energiemärkten verantwortlich. Doch ihr penetranter Unwille, das Risiko der Inflation schon im vergangenen Jahr ernster zu nehmen, verstärkte den fatalen Eindruck, die Notenbanker würden die falschen Analysewerkzeuge nutzen - das räumen die Währungshüter inzwischen auch selbst ein. "Wir haben festgestellt, dass wir viel weniger über die Treiber der Inflation wissen, als wir dachten", sagte der belgische Notenbankchef Pierre Wunsch dieser Tage.
Die EZB möchte diesen Fehler ausmerzen und künftig weniger mit Prognosen arbeiten. Vielmehr wolle man die Zinspolitik "von Sitzung zu Sitzung festlegen", so Chefvolkswirt Philip Lane. Bislang arbeitete die EZB mit modellierten Zweijahresprognosen, an deren Ende mathematisch immer das Inflationsziel von zwei Prozent erreicht wurde. Doch die Welt ist kein Labor. "Es ist dringend notwendig, dass der EZB-Rat bei seiner nächsten Sitzung entschlossen handelt, um die Inflation zu bekämpfen", fordert Bundesbankpräsident Joachim Nagel, der in den nächsten Monaten mit weiteren Zinsschritten rechnet. Unterdessen fürchten Politiker, dass steigende Zinsen die Wirtschaft zu stark abwürgen könnten. Die Straffung der Geldpolitik müsse "mit dem wirtschaftlichen Erholungspfad Europas und Spaniens in Einklang gebracht werden", sagte Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez.
Die steigende Inflation ist in allen führenden Industriestaaten ein riesiges Problem - außer in Japan. Das Land gilt einerseits als ein Sonderfall, weil die Preise dort seit zwei Jahrzehnten praktisch nicht gestiegen waren. Inzwischen steigen sie dort zwar auch, aber "nur" um knapp drei Prozent. Damit ist die Teuerungsrate dort längst nicht so hoch wie in Europa, den USA oder Großbritannien. Die Gründe?
"Die Bank von Japan hat seit Langem darauf geachtet, dass das Zinsniveau Japans unter dem der USA liegt. Dadurch flossen seit 1990 im Durchschnitt jährlich netto rund 130 Milliarden Dollar aus Japan ab", sagt Gunther Schnabl, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Leipzig. Investorengeld fließt in aller Regel dorthin, wo die Zinsen höher sind, deswegen sinkt die Inflation, weil: "Wenn Kapital abfließt, dann kann es im eigenen Land weder konsumiert noch als Kredit vergeben werden. Dadurch wurde der Inflationsdruck gedämpft." Darüber hinaus habe Japan die Preise vieler Waren subventioniert, dadurch seien mit Geld aus der Staatskasse die Preise künstlich niedrig gehalten worden. Dieses Geld hat sich die Regierung von der Notenbank geliehen, was lange Zeit von Experten kritisiert wurde.
Heute könne man von Japan lernen, meint Schnabl. Die Regierungen seien gefordert. "Die Inflationskontrolle durch vorausschauende Subventionspolitik hat dort in den letzten 20 Jahren funktioniert." In Europa habe dies erst mit dem Anstieg der Inflation in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 angefangen. In Frankreich beispielsweise mit einem Preisdeckel auf Energie, in Ungarn mit Milchpreissubventionen oder in Deutschland mit der Senkung der Energiesteuer für Kraftstoffe. "Allerdings führte die lange Phase niedriger oder gar sinkender Preise auch zu Wohlstandsverlusten in der japanischen Bevölkerung, etwa durch sinkende Löhne und niedrige Zinsen auf Ersparnisse", sagt der Wirtschaftswissenschaftler. "Aber das war ein schleichender Prozess. In Europa ist der Wohlstandsverlust mit dem Inflationsschub viel abrupter."