In der Industrie wachsen die Sorgen um den Standort Deutschland, aber die Sorgen sind bei den einen (noch) kleiner und bei anderen schon sehr groß. Große Sorgen macht sich Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). "Der Industriestandort Deutschland ist in einer kritischen Phase. Die deutschen Unternehmen überlegen inzwischen drei Mal länger, wo sie investieren, und viele schauen dabei gezielt nach Nordamerika," sagt Russwurm am Montag in Hannover.
Mit dem Inflation Reduction Act zeige die US-Regierung, wie einfach es gehen könne, mit einem pragmatischen Ansatz klimafreundliche Technologien zu fördern und eine hohe Investitionssicherheit zu gewähren. "Wenn es sich für Unternehmen nicht mehr lohnt, an traditionellen deutschen Standorten zu investieren, muss uns das Sorgen machen." Das Investitionsverhalten der Unternehmen sei ein Frühindikator für die wirtschaftliche Zukunft des Landes, so Russwurm.
Er ist der erste Lobbyist, der sich am ersten Tag der Hannover Messe zur Lage der Industrienation äußert. Es ist ein bisschen wie Speed-Dating mit Lobbyisten. Insgesamt 90 Minuten, eine halbe Stunde für jeden der Drei. Erst spricht Russwurm, er repräsentiert die gesamte Industrie, also auch solche Teile des verarbeitenden Gewerbes, die gar nicht in Hannover sind. Dann redet Karl Haeusgen, Unternehmer und Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA, und dann Gunther Kegel, der Vorstandschef von Pepperl + Fuchs ist und Präsident des Elektro- und Digitalverbandes ZVEI. In vielen Klagen sind sie sich einig, und die sind auch nicht unbedingt neu: zu viel Bürokratie, zu lange Genehmigungszeiten, zu hohe Steuern und Arbeitskräfte, nicht nur Fachkräfte, fehlen allen.
Alle setzen auf die Globalisierung. "Ein großer Teil unserer Stärke kommt aus der Globalisierung", sagt Russwurm. Und alle Lobbyisten warnen vor einer Entkoppelung von China, sie reden, so wie Bundeskanzler Olaf Scholz schon am Sonntag bei der Eröffnung, lieber vom Derisking. "Es gibt Risiken", sagt Russwurm: "Aber ich sehe nicht, was besser laufen sollte, wenn man aus lauter Angst kein Geschäft mehr in China macht." So sehen das auch die anderen Lobbyisten: "Wenn ich ein Produkt nur noch mit Rohmaterial aus Deutschland und Europa machen soll, scheitere ich", sagt ZVEI-Mann Kegel.
"Trügerische Sicherheit"
VDMA-Präsident Haeusgen sieht keine Deindustrialisierung im Maschinenbau. Das zeigt auch eine Umfrage unter den Mitglieder: vier von fünf Firmen hegen keine Verlagerungsgedanken. Auch in der Elektrotechnik gebe es momentan aufgrund der geringen Energieintensität keine konkreten Abwanderungsbewegungen, sagt Kegel. Das sei aber vielleicht nur eine trügerische Sicherheit, schiebt er unverzüglich nach. "Unternehmen entscheiden jeden Tag kleine Dinge." Wenn diese kleinen Dinge sich konsequent gegen einen Standort richten, kämen am Ende von zwei, drei Jahren so viele kleine Entscheidungen zum Nachteil von Deutschland zusammen, dass dies volkswirtschaftlich zu einer Katastrophe führe, sagt Kegel. Keiner werde die Koffer packen und wegrennen, auch aus Gründen der Tradition. Die entscheidende Frage sei jedoch: "Wo baue ich meine nächste Fabrik und mein nächstes Entwicklungszentrum?"
In einem Ranking der größten Schwarzseher würde Russwurm an diesem Montag den ersten Platz einnehmen. Das liegt auch daran, dass er die gesamte Industrie vertritt, also auch solche Zweige wie Chemie und Stahl, die besonders viel Energie verbrauchen. Russwurms Ausblick klingt trübe, er sagt, er sei realistisch. Ein Wirtschaftswunder, also ein Wachstum wie in den 1950er- und 1960er-Jahren oder eine Phase eines langen Wachstums "sehe ich nicht", sagt der ehemalige Siemens-Manager. Dieses Wirtschaftswunder hatte Bundeskanzler Scholz vor wenigen Wochen Deutschland prognostiziert. "Das ist eher Wunschdenken als Realität", sagt Russwurm.
Die wirtschaftliche Dynamik in Deutschland sei derzeit noch ausgesprochen gering. Der Industrieverband rechnet für 2023 mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts "nahe der schwarzen Null". Ein solche Mini-Wachstum sei weit entfernt vom Wachstum der Weltwirtschaft, das der Internationale Währungsfonds bei 2,8 Prozent sieht. Bei den Exporten rechnet der BDI mit einem Zuwachs von gerade einmal zwei Prozent. "Das heißt, wir verlieren wieder Weltmarktanteile, weil der Welthandel stärker wächst als unsere Ausfuhren." Im verarbeitenden Gewerbe rechnet der BDI in diesem Jahr mit einem Wachstum der Produktion um etwa ein Prozent. Die Lage in den Branchen sei allerdings unterschiedlich.
Wie unterschiedlich, das zeigen die Prognosen von VDMA und ZVEI. Der Maschinenbau hält an seiner Prognose fest und rechnet für 2023 mit einem realen Produktionsminus von zwei Prozent. Die Digitalbranche hebt ihre Prognose an von Null auf ein bis zwei Prozent Wachstum.