Gedankenspiel zur Euro-Krise:Die Mark und die Märkte

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Schon einmal versuchte Europa, einen potentiellen Pleitestaat ins politische Aus zu drängen: die DDR. Damals sorgte die bevorstehende deutsch-deutsche Währungsunion für Kurseinbrüche, Unsicherheit und inflationäre Tendenzen. Wie wäre die Wende verlaufen, hätten Banken und Ratingagenturen schon damals so großen Einfluss gehabt, wie sie es heute haben? Ein Gedankenspiel.

Alex Rühle

In den vergangenen Monaten wurden Griechenland oder ganz Südeuropa immer wieder mit der untergehenden DDR verglichen. So schrieb die FTD, "der Pleitestaat ( gemeint ist Griechenland, Anm. d. Red.) befindet sich in einer ähnlichen Situation wie Ostdeutschland vor der Wende".

Die bevorstehende Währungssunion im Jahr 1990 - Szenarien, die an Griechenland und die Schuldenkrise erinnern. (Foto: DPA)

Angela Merkel sagte auf einer CDU-Regionalkonferenz in Magdeburg, Griechenland solle sich nicht so anstellen, auch Ostdeutschland habe nach der Wende einen radikalen Strukturwandel bewältigen müssen. Und in dieser Zeitung hieß es, schon die Dauersubventionierung der früheren DDR-Gebiete habe die Geduld der Westdeutschen derart ausgezehrt, dass an eine Transferunion mit Südeuropa wohl kaum zu denken sei.

Der immer wiederkehrende Vergleich ist befremdlich, reizt aber zu einem ganz anderen Gedankenspiel: Wie wäre die Wende wohl verlaufen, wenn schon damals die Finanzwirtschaft derart großen Einfluss auf die Politik gehabt hätte wie heute in Zeiten der Euro-Krise? Wenn Helmut Kohl und François Mitterrand bei ihren Treffen ähnlich ängstlich auf alle Reaktionen der Märkte hätten schielen müssen wie Merkel und Sarkozy heute?

Man sollte dieses Experiment in den März 1990 verlegen. Damals sorgte die Nachricht von der bevorstehenden deutsch-deutschen Währungsunion kurzfristig für Kurseinbrüche an den internationalen Börsen. Londoner Analysten schrieben mit nervösem Stirnrunzeln, die Ost-Mark dürfe nur im Verhältnis eins zu fünf umgetauscht werden, jede bessere Bewertung würde "erhebliche Probleme schaffen, die sich in steigenden Zinsen und mit Verzögerung auch in schwächeren Aktienkursen niederschlagen müssten".

Viele Pessimisten glaubten außerdem, dem Bund würden durch die Einheit enorme Kosten entstehen - womit sie ja nicht falschlagen. Die Umlaufrendite von Bundesanleihen kletterte immer weiter, viele Besitzer warfen ihre Anleihen auf den Markt. Die Wirtschaftswoche schimpfte, die Spekulanten an der London International Financial Futures Exchange würden diese unbegründete Panik "täglich neu nutzen, indem sie den Preis des Terminkontrakts auf fiktive Bundesanleihen massiv nach unten drückten". Es werde bewusst Angst geschürt, der Artikel zog Parallelen zum Aktienkrach vom Oktober 1987, schließlich sei hier wie da "der Verkaufswelle gezielte Panikmache mit manipulierten Zahlen vorausgegangen".

Man stelle sich nur mal vor, welche Eigendynamik diese negativen Interpretationen hätten nehmen können, wenn die Finanzmärkte und die führenden Wirtschaftskräfte schon 1990 ähnlich dreist mitregiert hätten, wie sie das heute tun. Das weltweite Volumen der jährlichen finanziellen Transaktionen hat sich seit 1990 verfünffacht. Heute wird mehr als das Siebzigfache des Welt-Bruttoinlandprodukts auf den Finanzmärkten umgesetzt. Sechzig Prozent davon bestehen aus quecksilbrigen Derivaten, all diesen lichtscheuen Wesen, die auf jede Marktbewegung extrem euphorisch oder verschnupft, in jedem Falle aber launenhaft reagieren. Hätten die Finanzjongleure an der London International Financial Futures Exchange damals bereits einen derart mächtigen Hebel in Händen gehalten, was wäre wohl passiert?

Man stelle sich ferner vor, die Rating-Agenturen wären schon so immens einflussreich gewesen wie heute und wären damals bereits als die politischen Akteure aufgetreten, als die sie in der Euro-Krise wahrgenommen werden. Gut vorstellbar, dass Standard & Poor's, so wie eben geschehen, auch damals das langfristige "AAA"-Toprating für Deutschland unter verschärfte Beobachtung gestellt hätte.

Gründe dafür hätte es im März 1989 ohne weiteres gegeben: Inflationäre Tendenzen plus rasant steigender Mittelbedarf für die horrend kaputte Infrastruktur des Ostens plus Unsicherheit über die tatsächliche Höhe des Investitionsbedarfs - voilà, das aktuelle Rating kann eventuell nicht beibehalten werden. Roland Leuschel, Direktor der zweitgrößten Bank Belgiens, der Banque Bruxelles Lambert, unkte damals jedenfalls, Deutschland werde mit seinen enorm hohen Zinsen ganz Europa in eine Rezession reiten, die "hohen Zinsen für Deutschland bedeuten schließlich hohe Zinsen für ganz Europa", die D-Mark sei ja zu diesem Zeitpunkt schon keine starke Währung mehr.

Helmut Kohl schlug damals alle ökonomischen Bedenken in den Wind und steuerte mit großer Dickfelligkeit pfeilgrade auf die Einheit zu. Ja, er überrumpelte den damaligen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl im Februar einfach mit seinem Beschluss der Währungsunion.

Fragt sich, ob er diesen Kurs hätte halten können, wenn damals schon ganze Märkte beim Blick auf die schwache DDR-Mark nervös hätten werden können, und wenn, in sofortiger Rückkopplung, der Boulevard darauf eingestiegen wäre: Man braucht die aktuelle Hetze gegen die faulen, dreisten Griechen kaum umzuformulieren, um zu erahnen, was los gewesen wäre, wenn die Bild-Zeitung durch die Einheit die D-Mark und den bundesrepublikanischen Wohlstand in Gefahr gesehen hätten: Pleite-Ossis! Verkauft doch die Mecklenburgische Seenplatte! Dazu der passende Spiegel-Titel mit brennenden Papierfliegern aus D-Mark-Scheinen . . .

Man kann das Gedankenspiel im großen Maßstab weiterspinnen: Margaret Thatcher setzte ohnehin alles daran, die Einheit zu verhindern. Der französische Botschafter kabelte im Januar 1990 befremdet nach Paris, Thatcher sei "besessen" von der deutschen Frage, ein vereintes Deutschland werde Europa dominieren wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor allem wirtschaftlich, so Thatchers Angst, müsse man sich für die Einheit wappnen, "sonst werden wir überrollt von Agrarprodukten aus der DDR zu Dumpingpreisen und Industrieprodukten aus einer in höchstem Maße subventionierten Volkswirtschaft!"

Auch Mitterrand zauderte nach dem Mauerfall und wollte die Einheit zunächst so lange wie möglich hinauszögern. Am 21. Dezember 1989 war er extra nach Ostberlin geflogen, um der schwächelnden DDR-Regierung seine Aufwartung zu machen und Hans Modrow zu versichern, die DDR könne "ihr politisches Gleichgewicht wiederfinden und dann einen gewichtigen Platz in Europa einnehmen".

Was, wenn diese Skepsis der europäischen Bündnispartner seinerzeit auch noch Auftrieb bekommen hätte durch eine hypernervöse Börse? Was, wenn es damals bereits eine derart lähmende Furcht vor den Launen der Finanzmärkte und den Urteilen der Rating-Agenturen gegeben hätte wie heute? Wenn Regierungen damals schon derart panisch um das Vertrauen der Märkte hätten buhlen müssen wie in diesen Monaten, in denen die Kanzlerin achselzuckend zugibt, wir lebten nun mal in einer "marktkonformen Demokratie"?

Hätte. Wäre. Würde. All das sind Spekulationen. Doch wenn man sich solchen Gedankenspielen hingibt, muss man konzedieren, dass viele der damals geäußerten Warnungen völlig berechtigt waren. Die Ökonomen haben - ironischerweise im Verein mit Oskar Lafontaine - die Folgekosten der Wiedervereinigung sehr viel realistischer eingeschätzt als Helmut Kohl. Vielleicht hätten stärkere Märkte damals ja einen anderen Wechselkurs erzwungen. Vielleicht würde es Ostdeutschland dann heute besser gehen, schließlich hatten der 1:1-Umtausch und die Anhebung der Löhne auf Westniveau die massive De-Industrialisierung des Ostens zur Folge.

François Mitterrand übrigens erkannte 1990 sehr schnell, dass die Einheit ohnehin nicht zu verhindern sein würde und versuchte daraufhin, Deutschland durch kluge Bündnispolitik einzuhegen. Er arbeitete fieberhaft an einer Stärkung der Europäischen Gemeinschaft. Helmut Kohl, und damit schließt sich der Kreis, versprach ihm daraufhin, die starke D-Mark möglichst bald aufzugeben zugunsten einer gemeinsamen europäischen Währung.

© SZ vom 08.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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