Führungskräfte:"Es kann ganz furchtbare Formen annehmen, wenn man den falschen Chef hat"

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Wenn die Chefin keine ausgesprochene Psychopathin ist, kann man sie vielleicht auf ihr schlechtes Verhalten ansprechen, glaubt der Karriereberater Jürgen Hesse. (Foto: Annette Riedl/dpa)

Der Karriereberater Jürgen Hesse über Führungsqualitäten und warum sie so oft fehlen. Und die wichtige Frage, wann man die eigene Führungskraft lenken sollte - und wann lieber kündigen.

Interview von Bernd Kramer

Da ist der Tyrann, der nach Feierabend die Papierkörbe der Mitarbeiter durchwühlt, auf der Suche nach belastendem Material, um sie am nächsten Tag zur Schnecke zu machen. Da ist der Abteilungsleiter, der einem frisch am Rücken operierten Mitarbeiter auf die Bitte nach einem neuen Bürostuhl geantwortet hat: "Sie möchten einen Stuhlaustausch? Ich wünschte, ich könnte Sie austauschen." Oder der Filialleiter einer Elektronikkette, der einen Teil der Lieferungen für sich privat abzweigte, bis ein Mitarbeiter den Diebstahl meldete - und sich schließlich bei dem Berufsberater Jürgen Hesse wiederfand, weil ihm gekündigt wurde. Seit mehr als 30 Jahren betreibt Hesse, Jahrgang 1951, mit Hans Christian Schrader die Karriereberatung, unzählige Bewerbungsratgeber haben sie gemeinsam geschrieben. So unterschiedlich die Menschen waren, die zu ihnen kamen - dass sie neue Jobs suchten, hatte erstaunlich oft den gleichen Grund: Sie flohen vor ihren Chefs.

SZ: Herr Hesse, bevor wir über die vielen schlechten Chefs sprechen: Was wäre denn überhaupt ein guter?

Jürgen Hesse: Chefs sind aus meiner Sicht immer auch idealisierte Elternfiguren. Wie wünschen wir uns Eltern? Sie sollten liebevoll mit ihren Kindern umgehen. Im Berufsleben würden wir ein anderes Wort wählen, wir würden von Wertschätzung sprechen. Ein guter Chef oder eine gute Chefin nimmt sich Zeit, stellt Fragen und kann vor allem zuhören.

Und ein schlechter?

Der behandelt seine Mitarbeiter nicht pfleglich. Er klagt an, aber hört nicht zu. Er stellt keine Fragen, sondern gibt Anweisungen. Ich habe einmal eine hochintelligente junge Frau kennengelernt, die für einen amerikanischen Konzern um die Welt geflogen ist, um die internen Weiterbildungen für die Belegschaften zu organisieren. Bis sie schließlich eine neue Chefin bekam, eine Tyrannin, die ihren Schreibtisch einfach ins Archiv versetzt hat. Ohne Computer, ohne Telefon. Ein halbes Jahr hat sie das durchgehalten, dann wurde sie so krank, dass sie sich sogar das Leben nehmen wollte. Es kann ganz furchtbare Formen annehmen, wenn man den falschen Chef hat.

Eine repräsentative Umfrage einer Personalberatung ergab vor einigen Jahren, dass zwei von drei Beschäftigten in Deutschland ihren Chef für fachlich und charakterlich ungeeignet halten. Gibt es wirklich so viele schlechte Chefs?

Meine Rechnung geht so: Ein Drittel der Chefs macht einen wirklich guten Job, bei einem Drittel ist Luft nach oben. Und dann ist da ein Drittel, die sind so mies, dass sie nicht zu retten sind. Die sind zum Teil ernsthaft gestört. Ein Drittel! Das ist eine Menge.

Ihr Bauchgefühl in allen Ehren ...

Ich denke mir diese Zahlen nicht aus. Die Psychopathie-Forscher Paul Babiak und Robert Hare konnten vor Jahren einmal gut 200 Führungskräften aus sieben amerikanischen Konzernen einen Test vorlegen. Dabei erwiesen sich gut sechs Prozent der Chefs als psychopathisch, also als besonders gefühlskalt, skrupellos und berechnend. In der Bevölkerung waren es bei einem vergleichbaren Test nur gut ein Prozent. Und das ist nur die Spitze, andere Untersuchungen gehen davon aus, dass unter den Führungskräften 20 Prozent oder mehr eine eher herausfordernde Persönlichkeit aufweisen. Meine Daumenregel dürfte hinkommen.

Vielleicht ist es ja ganz sinnig, dass statt des entscheidungsschwachen und harmoniebedürftigen Softies manchmal ein Bulldozer in der Leitungsposition sitzt, der die Dinge ohne Skrupel durchsetzt.

Man könnte denken, dass Mitarbeiter alles geben, wenn der Chef ein strenges Regiment führt und Angst und Schrecken verbreitet. Es stimmt nur nicht. Es führt eher dazu, dass sie sich von ihrem Chef fernhalten und Pannen nicht eingestehen, wenn sie passieren. Miese Chefs sind kein Segen für ein Unternehmen.

Sie untermauern das in Ihrem Buch mit einem Versuch beim Autobauer VW.

Das Ergebnis dieses Versuchs war wirklich beeindruckend: Man versetzte die Chefs, in deren Abteilung ein hoher Krankenstand herrscht, in eine andere Abteilung. Und was passiert? Auch da stieg der Krankenstand. In deren vorheriger Abteilung, jetzt unter einem neuen Chef, ging der Krankenstand signifikant zurück. Eigentlich lehrt es ja schon unser Menschenverstand: Als Schüler habe ich Erdkunde gehasst - bis ich schließlich einen Lehrer bekam, der sympathisch war und uns freundlich angesprochen hat. Da sprang der Funke über.

Wenn der Schaden durch schlechte Chefs so eindeutig ist: Warum halten sie sich dann überhaupt so hartnäckig?

Wer mit allen Mitteln die Macht will, wird auch alles dafür tun, sie nicht abgeben zu müssen. Je schlimmer ein Chef ist, desto unwahrscheinlicher ist, dass er geht.

Der Chef des Chefs könnte ja etwas unternehmen.

Ja, wenn er selbst ein guter Chef ist. Wenn er aus dem gleichen Holz geschnitzt ist: eher nicht. Dann wird er den miesen Chef in Schutz nehmen. Oder er sagt ihm einfach, wenn es Probleme in der Abteilung gibt: Du verdankst mir deinen Job, jetzt zeig, was du drauf hast und sieh zu, dass der Laden läuft. Und dann wird der Chef seine Mitarbeiter noch mehr quälen, bis zum letzten Tropfen. Leider befördern schlechte Chefs unter sich eher schlechte Chefs.

Warum streben überhaupt so viele schwierige Charaktere in Chefpositionen?

Unsere Eltern sind unsere ersten Chefs. Wer eine liebevolle Kindheit verlebt, entwickelt wahrscheinlich die psychische Stabilität, dass er im späteren Berufsleben nicht das Bedürfnis verspürt, andere Menschen zu quälen. Wer das nicht hat ...

Jetzt klingen Sie wie Sigmund Freud: Die Tyrannen von heute kompensieren eigentlich nur ihre Demütigungen von damals. Etwas simpel, oder nicht?

Stark verkürzt wäre das die psychoanalytische Erklärung, ja. Ich glaube, sie hat nach wie vor etwas für sich. Die Kindheit ist sehr prägend, eine Lebensphase, in der wir hilflos und auf die unbedingte Unterstützung anderer angewiesen sind. Wenn Sie sich in dieser Zeit nicht ernst genommen und beachtet fühlen, dann werden Sie für ihr Leben eine Unsicherheit mit sich tragen, die Sie nur dadurch in den Griff bekommen, dass Sie alles dafür tun, sich nicht verletzlich und angreifbar zu machen. Dann schützen Sie sich, machen Karriere, wollen nicht Teil des Teams, sondern über dem Team stehen.

Abraham Lincoln wird der Satz zugeschrieben: "Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht."

Es gibt dazu ein schönes Experiment des Sozialpsychologen Adam Galinsky: der sogenannte E-Test. Galinsky hat seine Versuchspersonen in zwei Gruppen geteilt. Die Teilnehmer der einen Gruppe sollten sich an eine Situation erinnern, in der sie sich besonders mächtig fühlten, die der anderen Gruppe an eine Situation der Ohnmacht. Anschließend bat er die Probanden, sich ein E auf die Stirn zu zeichnen. Man kann den Buchstaben so zeichnen, als würde man von innen mit seinem geistigen Auge draufschauen. Oder so, dass das E den Menschen, die einen ansehen, richtig herum erscheint. Wer sich mächtig fühlte, schrieb sich das E eher aus eigener Blickrichtung auf die Stirn. Macht bringt Menschen dazu, vor allem sich im Zentrum zu sehen und ihre Perspektive für die wichtigere zu halten.

Ist den schlechten Chefs selbst klar, dass sie schlechte Chefs sind?

Nein. Wenn es gut läuft, dann erahnen sie im tiefsten Innern vielleicht ihr Defizit. Kennen Sie den Witz mit dem Autofahrer?

Erzählen Sie.

Ein Mann ist auf der Autobahn unterwegs und hört im Radio einen Warnhinweis: Achtung, auf der Strecke kommt Ihnen ein Falschfahrer entgegen. "Was redet der da!", ruft er aus. "Nur einer? Hunderte!" So ähnlich ist es auch mit Chefs. Sie sagen sich lieber, es liege in der Natur der Sache, dass sie bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht beliebt sind. Ein wesentliches Merkmal eines schlechten Chefs besteht ja gerade darin, immer erst einmal zu denken, dass er im Recht ist.

Was macht man als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter, wenn man an einen schlimmen Chef oder eine schlimme Chefin gerät? Sich beschweren?

Schwierig, leider. Ich erinnere mich an das, was mir eine junge Angestellte erzählt hat. Sie hat als Referentin für den Finanzvorstand eines großen Unternehmens gearbeitet. Irgendwann begann der, sie mit anzüglichen Bemerkungen zu belästigen. Als er in einer SMS über die Farbe ihrer Unterwäsche spekuliert, hat sie sich an dessen Vorstandskollegen gewandt. Der war entsetzt und wollte sich kümmern. Aber wie ging die Geschichte aus? Man bat sie, einen Auflösungsvertrag zu unterzeichnen.

Man ist also chancenlos?

Es geht bisweilen furchtbar ungerecht zu. Damit will ich nicht sagen, dass es keine Möglichkeiten gibt, aber man muss sie gut erwägen. Im Ausleben der Macht wird ein hartleibiger Chef Ihnen gegenüber immer einen Praxisvorsprung haben. Die entscheidende Frage für Sie ist: Wie schlimm ist der Chef wirklich? Ist er kein ausgesprochener Psychopath, können Sie ihn vielleicht sachte darauf ansprechen und versuchen, ein Arrangement zu finden. Manche Chefs sind regelrecht überrascht, wenn sie hören, wie ihr Verhalten ankommt. Aber probieren Sie es nicht zu lange, wenn Sie merken, dass Sie nicht durchdringen. Dann gehen Sie ihm besser aus dem Weg, ducken Sie sich weg, suchen Sie sich Verbündete.

Gründet einen Leidenskreis - so lautet einer Ihrer Ratschläge.

Ja. Es entlastet ungemein, wenn man weiß, dass es anderen ähnlich ergeht mit diesem Chef oder dieser Chefin. Dass nicht Sie das Problem sind, sondern andere von ähnlichen Schwierigkeiten berichten. Und manchmal lässt sich gemeinsam sogar etwas bewirken. Wie hieß noch mal dieser Chefredakteur der Bild-Zeitung?

Sie meinen Julian Reichelt?

Nach allem, was man lesen konnte, muss das wohl ein fürchterlicher Chef gewesen sein. Dann haben sich die Frauen, die unter seinem Führungsstil litten, zusammengeschlossen. Am Ende musste er tatsächlich gehen. Es kann funktionieren, sich zu verbünden. Aber es kann eben dauern. Und es ist nicht gesagt, dass es am Ende wirklich klappt. Bis ein grauenhafter Chef fällt, fallen erst die, die unter ihm leiden. Einfacher ist es, sich selber einen neuen Chef zu suchen.

Eine Kündigung ist ein großer Schritt.

Ich weiß. Auch aus eigener Erfahrung. Ich war lange als Geschäftsführer bei der Telefonseelsorge, bis ich dort eine neue Vorgesetzte bekam. Ich fand sie ganz in Ordnung, sie mich offenbar nicht, und ich habe es leider erst spät gemerkt. Irgendwann wurden mir Vorhaltungen gemacht, die ich selbst nicht verstanden habe. Mit 57 bin ich gegangen. Heute denke ich: Warum habe ich mich nicht viel früher mit meinem Büro für Berufsberatung selbständig gemacht? Wir unterschätzen manchmal unsere Möglichkeiten.

Bei der hohen Wahrscheinlichkeit für Fehlgriffe, von der man bei Ihren Schätzungen ausgehen muss: Wie erkennt man denn, ob man sich auf einen guten Chef einlässt?

Vielleicht kann man sich vorab mit dessen Mitarbeitern vernetzen und sich vorsichtig erkundigen. Ein anderes Indiz ist vielleicht der Chef da drüber: Was ist das für ein Typ? Lässt der sich nur von den ihm untergebenen Chefs hofieren oder schaut der auch mal an der Basis vorbei und erkundigt sich, wie zufrieden die Menschen da eigentlich mit der Arbeit sind? Aber es wird immer schwierig sein, das Spiel zu durchschauen, solange man außen steht. Wichtig ist die Haltung, mit der man in ein solches Gespräch geht: Es geht nicht einfach darum, ein Stellenangebot zu bekommen. Man testet dabei auch, ob der Chef einem wenigstens halbwegs okay erscheint.

Wir sollten das Bewerbungsgespräch als Casting von Führungskräften betrachten?

Sozusagen. Man sollte früh genug seinen Instinkt schärfen: Ist das wirklich eine Person, für die ich gerne arbeiten möchte?

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