Pipers Welt:Damals in Freiburg

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An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Vor 50 Jahren hat sich die FDP ein ehrgeiziges Programm gegeben, das sich auch heute noch zu lesen lohnt. Denn in den Freiburger Thesen geht es um Umweltschutz, Eigentum und Vermögensbildung.

Von Nikolaus Piper

Parteiprogramme werden häufig unterschätzt. Es stimmt zwar, dass Politiker sie selten eins zu eins in praktische Politik umsetzen. Aber Programme können den Zeitgeist aufnehmen, kondensieren und auch verändern. Die Düsseldorfer Leitsätze von 1949 etwa markierten die Abkehr der westdeutschen CDU vom christlichen Sozialismus und ihre Hinwendung zu einer Marktwirtschaft, die man bald die "soziale" nennen sollte. Die SPD verabschiedete sich 1959 mit ihrem Godesberger Programm vom Marxismus und konnte so zu einer modernen Reformpartei werden. Das bei Weitem ehrgeizigste unter den bundesdeutschen Parteiprogrammen aber stammt von der FDP. Die "Freiburger Thesen", die die Partei vor 50 Jahren, am 27. Oktober 1971, in der Stadthalle von Freiburg im Breisgau beschloss, schufen eine theoretische Grundlage für die sozialliberale Ära. Die hatte 1969 begonnen, als SPD und FDP Willy Brandt zum Kanzler wählten. Die Autoren wollten aber noch mehr: einen neuen, "nicht mehr nur Demokratischen, sondern zugleich Sozialen Liberalismus". Noch heute staunt man, was bei der FDP damals alles möglich war.

Geistiger Vater der Freiburger Thesen war Karl-Hermann Flach. Der linksliberale Journalist - geboren 1929 in Königsberg - hatte seine politische Karriere 1946 bei der Liberaldemokratischen Partei in der Sowjetischen Besatzungszone begonnen. Als die DDR 1949 gegründet wurde, floh er nach Westberlin, studierte an der FU und wurde 1959 Bundesgeschäftsführer der FDP. Weil die ihm zu konservativ war, zog er sich 1962 aus der aktiven Parteiarbeit zurück und wurde Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, wo er es bis zum stellvertretenden Chefredakteur brachte . Erst als die FDP mit der CDU brach, engagierte sich Flach wieder bei den Liberalen. Er wollte den Liberalismus aus seiner Erstarrung lösen: "Die Liberalen müssen jede Idee, jedes Konzept, jede Utopie, jedes Gesetz darauf abklopfen, ob sie in der Praxis wirklich mehr Freiheit für mehr Menschen bringen."1971 wurde Flach zum Generalsekretär der FDP gewählt.

Die Freiburger Thesen waren das erste Parteiprogramm in der Bundesrepublik, in dem Umweltschutz vorkam: "Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht", hieß es in einer These. Und in einer weiteren: "In die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen muss das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand aufgenommen werden." Das war umso bemerkenswerter, als man 1971 noch nichts vom Klimawandel wusste. Dass aber die Natur in Gefahr war, konnte jeder sehen. So war etwa der Bodensee wegen der vielen Abwässer akut vom Umkippen bedroht.

Im Weiteren forderten die Liberalen auch eine weitreichende betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung. Die Begründung liest sich wie ein Flugblatt aus der Studentenbewegung: "Verfügungsmacht über Sachen und Herrschaftsgewalt über Menschen bedürfen der Kontrolle durch Mitbestimmung, die der Entfremdung und der Fremdbestimmung demokratisch entgegenwirkt." Das Programm dürfte dazu beigetragen haben, dass der Bundestag 1976 die (fast) paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten mit großer Mehrheit beschloss.

Privateigentum ist zentral für das Menschenbild des Liberalismus

Bei Weitem am interessantesten jedoch sind die Freiburger Thesen, wenn es um das Thema Eigentum geht. Privateigentum ist zentral für das Menschenbild des Liberalismus: Ohne Eigentum kann es keine Freiheit geben. Die FDP ergänzt in Freiburg: Ohne breit gestreutes Eigentum bleibt die Freiheit unvollständig. "Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen", heißt es in einer These. Eine "Nachlassabgabe" soll an Stelle der ineffizienten Erbschaftsteuer verhindern, dass sich Reichtum über die Generationen hinweg immer mehr konzentriert.

Sehr konkret sind die Vorschläge zur Vermögensbildung: "Private und öffentliche Unternehmen werden von einer bestimmten Wertschöpfung an verpflichtet, Beteiligungsrechte an ihrem Vermögenszuwachs einzuräumen." Bei Kapitalgesellschaften sollten diese Beteiligungsrechte aus stimmberechtigten Kapitalanteilen bestehen, bei Personengesellschaften aus Dauerschuldverschreibungen oder anderen Formen. Eine öffentlich-rechtliche Clearingstelle sollte die Vermögenswerte an Kapitalanlagegesellschaften weiterleiten. Auf Deutsch: Die Kapitalisten hätten ein Stück Verfügungsmacht an die Arbeitnehmer abgeben müssen. Und das von der FDP.

Aus diesen Plänen ist nie etwas geworden. In der Wirtschaft waren sie unpopulär, aber auch die Gewerkschaften hatten kein großes Interesse daran, dass Arbeitnehmer Kleinkapitalisten wurden. Der Unternehmer und Sozialdemokrat Philip Rosenthal kämpfte zwar leidenschaftlich für die Vermögensbildung. Weil er aber immer wieder blockiert wurde, trat Rosenthal im November 1971 resigniert vom Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundeswirtschaftsministerium zurück - nur einen Monat nach Verabschiedung der Freiburger Thesen. (Diese wurden 1977 durch die wesentlich konventionelleren Kieler Thesen abgelöst.)

Man weiß nicht, ob das mit der Vermögensbildung so funktioniert hätte, wie sich Karl-Herman Flach das vorstellte. Trotzdem ist es erbitternd, dass nie jemand einen ernsthaften Versuch unternommen hat. Deutschland würde heute anders über soziale Ungleichheit reden, wenn fast drei Generationen von Bundesbürgern die Chance gehabt hätten, Beteiligungsvermögen zu bilden.

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