Da haben deutsche Unternehmen so viele Aufträge wie nie, da könnte die Wirtschaft in diesem Jahr noch stärker wachsen als erwartet, da ist die Zahl der Beschäftigten so hoch wie nie - und dann fällt der größten deutschen Gewerkschaft nichts Dämlicheres ein, als den Boom durch Streiks für ein esoterisches Ziel zu beschädigen? So hört sich die Kritik an, die der IG Metall zur Zeit entgegenschlägt. Jedenfalls, wenn man den Arbeitgebern zuhört, die so unversöhnlich klingen wie selten.
Die Gewerkschafter in der Frankfurter Zentrale wissen selbst, welch mächtiges Risiko sie mit dem wohl härtesten Tarifstreit seit vielen Jahren eingehen, der am Montag mit Warnstreiks beginnen soll. Es ist ungewöhnlich, nicht einfach nur mehr Lohn zu fordern wie sonst, sondern ein Recht für Beschäftigte, ihre Arbeitszeit vorübergehend auf bis zu 28 Stunden zu senken. Werden die Beschäftigten wirklich ausdauernd für flexibleres Arbeiten streiken, falls der Konflikt mit den Unternehmen so groß wird, wie es sich abzeichnet?
Eines steht außer Frage: Die IG Metall hat sich keineswegs ein esoterisches Ziel herausgepickt. Denn inzwischen wünschen sich viele Bundesbürger, eine gewisse Zeit lang weniger zu arbeiten, um sich beispielsweise um die Kinder oder ältere Angehörige zu kümmern, ohne dafür auf jedwede Karriere zu verzichten. Die Forderung der Gewerkschaft ist deshalb nicht abseitig, sondern avantgardistisch. Es könnte ein Signal für alle Arbeitnehmer sein. Denn was im größten Industriesektor mit vier Millionen Beschäftigten herauskommt, bei Autokonzernen, Medizintechnikfirmen und Maschinenbauern, das strahlt weit aus. Setzt sich die IG Metall durch, verändert sie die Bedingungen im ganzen Land.
Damit lässt sich auch das Risiko quantifizieren. Scheitert die größte deutsche Gewerkschaft mit ihrer Forderung, wird keine der anderen, kleineren Gewerkschaften das Thema anfassen. Auch die politische Debatte über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf würde einen Rückschlag erleiden. Die IG Metall hat also eine besondere Verantwortung.
Schuften ohne Rücksicht auf Verluste, das erscheint den Jüngeren eher traurig
Zunächst einmal weist es ja eine gewisse Ironie auf, dass der IG Metall vorgeworfen wird, die Lohnrunde mit einem gesellschaftlichen Thema zu verknüpfen. Üblicherweise werden Gewerkschaften für das Gegenteil kritisiert: Sie versteiften sich auf traditionelle Tarifrituale, statt sich darum zu kümmern, was gerade jüngere Menschen bewegt - deshalb hätten die Gewerkschaften in den vergangenen Dekaden an Mitgliedern eingebüßt. Mit der Vereinbarkeit von Leben und Arbeit greift die Gewerkschaft nun eine Frage auf, die viele Menschen bewegt, gerade jüngere.
Personalchefs stellen dies schon länger fest, wenn sie es mit Millennials zu tun haben, der so genannten Generation Y: Die nach 1980 Geborenen formulieren andere Prioritäten als Arbeitnehmer früher. Schuften ohne Rücksicht auf Verluste, das erscheint ihnen weniger toll. Mancher wagt im Bewerbungsgespräch gar, nach Sabbaticals zu fragen, auf die Gefahr hin, dass ein alteingesessener Personaler dies als totalen Wahnsinn empfindet. Millennials wollen der Karriere häufig nicht alles opfern - zum Beispiel wollen sie einen Umgang mit ihren Kindern, der über ein paar Alibistunden am Wochenende hinausgeht. Klar, sie nehmen ihren beruflichen Aufstieg wichtig. Aber eben: nicht nur.
Bei einer aktuellen Befragung bezeichneten mehr Hochschulabsolventen Familie und Freunde als zentraler als die Karriere. Dieser Wandel beschränkt sich nicht auf die jüngere Generation. In einer Studie für das Bundesarbeitsministerium stuften generationsübergreifend fast alle Beschäftigten den Lohn als sehr bedeutsames Kriterium für ihren Job ein. Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen, setzten aber fast genauso viele nach oben.
Die Veränderungen haben mit dem Aufbrechen des traditionellen Familienbildes zu tun. Jahrzehntelang verfolgten Männer ihre Karriere, ohne Zeit für ihre Kinder einzuplanen. Frauen entschieden sich für Beruf oder Kinder. Oder sie planten die Arbeit als Restgröße in den paar Stunden, die ihnen neben den Kindern blieben. Entsprechend limitiert waren ihre Aufstiegschancen.
Inzwischen wollen immer mehr Frauen beides: Kinder und einen vollwertigen Beruf. Und Väter versprechen, sich mehr um den Nachwuchs zu kümmern als Generationen vor ihnen. Zum ersten Mal versucht eine nennenswerte Anzahl Paare, sich Arbeit und Kindererziehung gleichwertiger zu teilen. In Deutschland läuft gerade ein Großversuch mit Millionen Teilnehmern. Am Ende könnten Mütter, Väter und Kinder Schaden nehmen, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für das Modell nicht verbessert werden.
Dazu gehört, dass die Angebote zur Kinderbetreuung trotz aller Fortschritte weiter ausgebaut werden müssen. Dazu gehört auch, arbeitende Paare mit Kindern entsprechend finanziell zu unterstützen. Wenn beide arbeiten, profitieren Steuer- und Sozialsystem viel stärker als bei Alleinverdienern - doch der Staat fördert durch Regeln wie das Ehegattensplitting weiterhin, dass die Mutter oder die kinderlose Ehefrau zuhause bleibt.
Die gestiegene Lebenserwartung fordert einiges ab
Wandeln muss sich auch die Organisation der Arbeit. Eltern muss es möglich sein, etwa ihre Arbeitszeit zu reduzieren, solange die Kinder empfänglicher für Aufmerksamkeit sind als später in der Pubertät. Ihnen muss es aber auch möglich sein, später wieder mehr Stunden zu arbeiten, um beruflich nicht abgehängt zu werden und zusätzliche Rentenansprüche zu erwerben. Wer den Lebensunterhalt seiner Familie bezahlen will, inklusive hoher Mieten, und zudem die private Vorsorge fürs Alter finanzieren will, der kann sich schlecht auf eine Stundenzahl festlegen, die dann für das ganze Berufsleben gelten soll.
Mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit würde auch helfen, einen weiteren gesellschaftlichen Trend zu berücksichtigen: Weil die Menschen immer länger leben, ist es immer öfter erforderlich, sich um ältere Angehörige zu kümmern. Wer 2015 geboren wurde, lebt im Schnitt 15 Jahre länger als ein Bundesbürger des Jahrgangs 1950. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Sie fordert den Nachkommen aber einiges ab - in Zukunft noch mehr.
Politische Initiativen stocken
Mehr Flexibilität beim Arbeiten also? Die Realität sieht anders aus. Für viele Unternehmen scheint als Option entweder nur Vollzeit zu existieren - oder Teilzeit für immer. Wenn jemand in Teilzeit geht, verweigert die Firma später häufig, wieder länger tätig zu sein. Kein Wunder, dass Männer Teilzeit scheuen, weil sie den Karriereknick fürchten. Frauen wählen wegen der Kinder dennoch oft dieses Modell. Trotz Karriereknick und Rentenknacks. Und so arbeiten nur fünf Prozent der Väter mit minderjährigen Kindern Teilzeit, aber 70 Prozent der Mütter. Im Durchschnitt sind die Frauen nur 20 Stunden die Woche tätig, ermittelte die Organisation OECD.
Ein Großteil würde länger arbeiten. Zahlreiche politische Bemühungen, flexibleres Arbeiten zu ermöglichen, stecken zur Zeit fest. So konnte die SPD in der vergangenen Wahlperiode weder durchsetzen, dass Paare ihre Arbeitszeit vorübergehend auf 30 Stunden reduzieren können und einen Zuschuss erhalten, noch ließ sich die Union auf ein erweitertes Recht für Arbeitnehmer ein, von Teil- in Vollzeit zurückzukehren. Was die SPD nun in einer neuen Großen Koalition durchsetzen kann, steht in den Sternen.
Die Arbeitgeber könnten mit mehr Flexibilität mehr weibliche Angestellte gewinnen
Das lenkt den Blick darauf, dass nicht nur Parteien, sondern auch Gewerkschaften den gesellschaftlichen Wandel beschleunigen können. Für 130 000 Beschäftige bei der Bahn wurde 2017 ein Tarifvertrag abgeschlossen, bei dem eine Mehrheit für mehr Urlaub statt für mehr Geld votierte. Auch das vorübergehend kürzere Arbeiten gibt es schon, aber nur in einer Region bei der Chemie. Drückt die IG Metall dies für vier Millionen Beschäftigte durch, würde daraus eine Massenbewegung. Die Branche umfasst große Teile der Industrie, Malocher im Blaumann genauso wie Softwareentwickler und Ingenieure. Es wäre ein Meilenstein für deutsche Arbeitnehmer. Gleichzeitig wäre es der Beweis, dass die Gewerkschaft ein Gespür dafür hat, was die Menschen bewegt. Und dass sie auch heute soziale Errungenschaften mitdurchsetzen kann, wie ihr dies einst mit Urlaub und bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gelang.
Für die Arbeitgeber, die oft über Fachkräftemangel klagen, wäre mehr Flexibilität womöglich die Chance, mehr weibliches Personal anzuziehen. Doch die Arbeitgeber attackieren die Gewerkschaft wie lange nicht mehr. Es droht eine Eskalation mit Streiks, die die Wirtschaft viel Geld kosten wird - und die die IG Metall am Ende vielleicht nicht durchhält. Ihre Stammklientel in den großen Konzernen kommt schon öfter in den Genuss flexibler Arbeitszeitmodelle als die Mitarbeiter kleinerer Firmen - und sperrt sich deshalb womöglich, wochenlang zu streiken.
Eine große Idee
Damit das Ganze nicht scheitert, müssen sich nicht nur die Unternehmen bewegen, sondern auch die IG Metall. Denn es verlangt den Firmen einiges ab, Beschäftigten zu ermöglichen, ihre Arbeitszeit erst zu reduzieren und sie dann später wieder aufzustocken. Sie müssen ganz anders planen als heute, und teurer wird es auch. Niemand sollte vergessen, dass die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb steht - und ein Tarifvertrag auch für die Zeit passen muss, wenn der Boom abflaut. Deshalb sollte die Gewerkschaft im Verlauf der Verhandlungen ihre Forderung modifizieren, dass Mitarbeiter vom Unternehmen auch noch 200 Euro Zuschuss pro Monat bekommen, wenn sie ihre Arbeitszeit reduzieren. Und sie sollte auch den Firmen mehr Flexibilität zugestehen. Konkret hieße das: Die Unternehmen dürfen einen größeren Teil der Beschäftigten regelmäßig mehr als 35 Stunden die Woche arbeiten lassen als heute. Das reduziert die Kosten für Überstunden und hilft gegen Personalknappheit.
Wenn sie klug sind bei der IG Metall, halten sie solche Zugeständnisse bereit, natürlich mit dem geschäftsüblichen Wehklagen. Das flexiblere Arbeiten für ein besseres Leben ist eine große Idee. Aber diese Vision ist nichts wert, wenn sie als Forderung in einer zentralen Branche scheitert, statt sich aufs ganze Land auszubreiten.