Debatte um Überstunden:Überstunden sind in Ordnung - bis das Vertrauen zerstört ist

Bürolichter

Auch im Dunkeln sind die Büros noch hell erleuchtet

(Foto: dpa)

Viele Firmen lassen ihre Mitarbeiter gratis für sich arbeiten und sparen an Bezahlung und Arbeitsplätzen. Aber auch die Stechuhr ist keine zufriedenstellende Lösung.

Kommentar von Nakissa Salavati

Es soll Menschen geben, die gern Überstunden machen. Sie schauen nicht auf die Uhr, Freizeit und Arbeitszeit halten sie für austauschbare Begriffe. "Sie brennen für ihren Job", heißt es dann. Daran ist nichts auszusetzen. Es ist schön, wenn man gern arbeitet. Schließlich macht die Arbeit, in Zeit gemessen, den größten Teil des Lebens aus. Für alle, die jetzt jung sind, ist Arbeitszeit sogar noch bestimmender, weil sie spät in Rente gehen werden. Umso entscheidender ist daher die Frage, was sich Beschäftigte in Unternehmen gefallen lassen: Dass sie einfach mehr arbeiten, ohne dafür entlohnt zu werden, ist nicht akzeptabel.

Beschäftigte in Deutschland haben im Jahr 2016, neuere Zahlen gibt es noch nicht, mehr als 493 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet. Die offizielle Zahl des Statistischen Bundesamtes liegt vermutlich zu niedrig. Manche Experten gehen von deutlich mehr unbezahlten Überstunden aus; methodisch ist es naturgemäß schwierig, freiwillige Mehrarbeit zu erfassen, weil man sich auf Befragungen stützen muss.

Teilzeit funktioniert nicht mehr, sondern wird zur schlecht bezahlten Vollzeit

Sicher aber ist: In Deutschland lassen viele Unternehmen gratis für sich arbeiten, und oft ist das nicht im Interesse der Mitarbeiter. Die Firmen sparen Bezahlung und zusätzliche Arbeitsplätze. Sie nehmen Arbeit und geben nichts. Das hat nicht nur Folgen für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft: Arbeit wird abgewertet, das Machtverhältnis zwischen Unternehmen und Beschäftigten verschiebt sich.

Überstunden haben zur Folge, dass Teilzeit nicht funktioniert, weil sie zur schlecht bezahlten Vollzeit wird. Männer machen häufiger Überstunden als Frauen, das verhindert Gleichberechtigung: Wie sollen Mütter wieder in den Job zurückfinden, wenn Väter noch mehr arbeiten? Außerdem sind Überstunden oft ein Argument für Aufstieg und Karriere - selbst, wenn andere in kürzerer Zeit mehr leisten.

Alles ist gut, wenn das Vertrauen gegenseitig ist

Muss also die Stechuhr her? Ist das Konzept der Vertrauensarbeitszeit gescheitert? Soll man es wie Unternehmen halten, die Mitarbeiter nicht mehr ins Büro lassen, wenn sie ihre Stunden überziehen? Die den E-Mail-Empfang nach Feierabend abstellen? Auch in diesem Fall bestimmen Arbeitgeber einseitig über die Zeit der Mitarbeiter. Man kann das als fürsorglich empfinden. Eigentlich ist es bevormundend.

Die Kontrollmethoden verkennen, dass Digitalisierung Vorteile hat, Flexibilität etwa: Wen schert es in kreativen Berufen, wann jemand seine Arbeit erledigt? Die Verantwortung liegt dann zwar bei den Beschäftigten. Das kann für sie aber von Vorteil sein, sie können die Arbeit nach ihrem Leben ausrichten und nicht anders herum. Wenn in einem vertrauensvollen Arbeitsverhältnis Überstunden anfallen, haben Mitarbeiter die Freiheit, ein andermal früher zu gehen, zu Hause zu bleiben, sich um die Kinder zu kümmern. Alles ist gut, wenn das Vertrauen gegenseitig ist. Wenn Firmen Widerspruch dulden und selbstbestimmte Mitarbeiter fördern, solche, die sich auch selbst zeitliche Grenzen setzen.

Dieses System funktioniert aber in vielen Berufen nicht: Es ist schlicht Ausbeutung, wenn der Tag eines Paketboten nicht nach acht, neun Stunden, sondern erst dann vorbei ist, wenn er alle Pakete ausgeliefert hat. Sein Arbeitgeber überträgt Risiken des Geschäfts auf ihn, das darf nicht sein. Diesen Machtmechanismus erleben auch Hochqualifizierte, etwa angestellte Ärzte. In diesen klaren Fällen braucht es Schutz: verbindliche Tarifverträge, starke Mitarbeitervertreter, und im Ernstfall die Möglichkeit des Staates, Ausbeutung zu sanktionieren.

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