Bosnien-Herzegowina:Die Frauen von der Brücke

Lesezeit: 7 Min.

"Unser Fluss ist das Wertvollste, was wir haben", sagen die Frauen aus Kruščica. (Foto: Andrew Burr)

Auf dem Balkan boomt der Bau von Wasserkraftwerken, doch die Nachhaltigkeit der Projekte ist umstritten. Frauen im Dorf Kruščica besetzen eine Brücke und blockieren so die Interessen internationaler Konzerne.

Von Inga Rahmsdorf

Tahira-Mika Tibold gießt Kaffee nach, die anderen Frauen tunken Zuckerwürfel in das starke Getränk und ziehen an ihren Zigaretten. Sie sitzen im Schatten dichter Baumkronen, neben ihnen plätschert die Kruščica. Der glasklare Fluss spendet das Wasser für den Kaffee. Ohne Kaffee schmecken die Zigaretten nicht. Und wer Tag und Nacht einen Fluss bewacht, sommers wie winters, seit mehr als einem Jahr, der braucht viele Zigaretten.

"Unser Fluss ist das Wertvollste, was wir haben. Und den wollen sie uns wegnehmen", sagt Tibold. Die 66-Jährige lebt in Kruščica, einem Dorf in Bosnien-Herzegowina, durch das sich der gleichnamige Fluss schlängelt. Tibold trägt eine randlose Brille und hat ihre braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Sie spricht mit ruhiger Stimme und wirkt dabei so souverän, als würde sie schon seit Jahren die Interessen ihres Dorfes vertreten. Dabei hatte sie früher nie etwas mit Politik und Umweltschutz zu tun, sondern hat in der Personalabteilung einer Firma gearbeitet, drei Kinder großgezogen, sich um ihre Enkel gekümmert.

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Politisch engagiert haben sich im Dorf immer nur die Männer. Bis August 2017, als ein Wasserkraftwerk gebaut werden sollte. Seitdem kämpfen die Frauen von Kruščica um ihren Fluss. Sie haben sich bei den lokalen Wahlen aufstellen lassen und Tibold zu ihrer Sprecherin ernannt. "Wir haben keine Alternative", sagen sie. "Der Fluss ist unsere Trinkwasserquelle und die Lebensgrundlage unseres Dorfes."

Energiekonzerne, Politiker und Investoren sehen jedoch einen anderen Wert in Flüssen wie der Kruščica. Sie wollen mit Wasserkraft Strom erzeugen. Im gesamten Balkangebiet werden derzeit etwa 190 neue Wasserkraftwerke gebaut, weitere 2800 sind geplant. Zusätzlich zu etwa 1000 Anlagen, die schon in Betrieb sind. Während in Deutschland fast alle Flüsse reguliert, in Korsette gezwängt, durch Kraftwerke gedämmt sind, fließen zwischen Slowenien und Albanien hingegen die letzten unberührten Wildflüsse Europas. Sie mäandern durch Überschwemmungslandschaften, stürzen Wasserfälle hinab und bieten seltenen und bedrohten Tierarten einen Lebensraum.

Kruščica, das ist die Geschichte von Frauen, die sich erhoben haben, um für ihr Dorf zu kämpfen. Kruščica ist aber auch die Bühne für einen Konflikt, wie er an so vielen Orten weltweit ausgetragen wird. Ein Konflikt, dem immer die gleichen Fragen zugrunde liegen. Wie lässt sich der wachsende Bedarf an Ressourcen in der Zukunft decken? Und ist es möglich, dass es dabei zwischen Menschen, Natur und Konzernen gerecht zugeht?

Für die einen Lebensader ihrer Dörfer, für die anderen Stromlieferanten: Um die Flüsse auf dem Balkan tobt ein Streit. (Foto: @theolator)

Flüsse, die einfach so vor sich hinfließen. Das ist verschenkte Energie, sagen die Befürworter von Wasserkraft. Die Balkanstaaten müssen ihren steigenden Strombedarf decken. Und sie haben sich verpflichtet, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen. Der Balkan hat das größte, bisher nicht genutzte Potenzial für Wasserkraft in Europa, konstatiert die International Hydropower Association (IHA), ein weltweiter Zusammenschluss von Konzernen der Wasserkraftbranche.

In Deutschland dagegen gilt laut Umweltbundesamt das Potenzial als weitestgehend ausgeschöpft. Die IHA propagiert Wasserkraft nicht nur als klimaneutrale Alternative zu fossilen Brennstoffen, sondern auch als gute Ergänzung zu anderen erneuerbaren Energien. Ein großer Vorteil sei, dass man durch Wasserspeicher jederzeit auf Abruf zuverlässig und flexibel Strom erzeugen könne. Wasserkraft, das sei grün, unerschöpflich und klimafreundlich.

"Das ist ein Irrglaube", sagt Nataša Crnković, Präsidentin der bosnisch-herzegowinischen Umweltorganisation Center for Environment. Die 31-Jährige mit den braunen Locken hat ein herzliches Lachen. Spricht sie aber über die gefährdeten Flüsse, wird sie energisch. Der Anteil an Strom, den die geplanten Wasserkraftanlagen auf dem Balkan erzeugen könnten, sei sehr gering.

Die ökologischen Auswirkungen dagegen katastrophal. Nicht nur gewaltige Staudämme, sondern ebenso kleine Kraftwerke, wie in Kruščica geplant, würden wertvolle Ökosysteme zerstören, Flussbetten austrocknen, Grundwasserspiegel absenken und seltene Tierarten gefährden. "Die Kraftwerke bedrohen zudem die Lebensgrundlage vieler Menschen", sagt Crnković. "Subventionen machen das Geschäft für Investoren, Baufirmen, Energiekonzerne und Banken interessant. Menschenrechte werden dabei missachtet."

Amira Handanagic ist eine von vielen Frauen, die für die Krušcica kämpfen - nicht nur mit selbst bemalten T-Shirts. (Foto: Jelle Mul)

Welche Banken und Energiekonzerne hinter dem Boom der Wasserkraftanlagen auf dem Balkan stehen, hat Bankwatch, ein Netzwerk von Umweltorganisationen, in einer umfangreichen Studie analysiert. Neben kommerziellen Banken sind das demnach auch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die Europäische Investitionsbank (EIB) und die Weltbank, die direkt oder indirekt Projekte finanzieren.

Wie weit soll man gehen, um Strom zu gewinnen? Rechtfertigt der Energiebedarf, ganze Landstriche in Kohlekesseln zu verheizen und damit die Klimaerwärmung zu beschleunigen? Nein, sagen die Demonstranten im deutschen Hambacher Forst und finden große Unterstützung. Aber darf man dann, um aus eben jener umweltschädlichen Kohle auszusteigen, Staudämme bauen, Dörfer überfluten und wertvolle Ökosysteme zerstören? Nein, sagen die Frauen in Kruščica. Es ist ein Dilemma, ein Abwägen ökologischer und sozialer Auswirkungen. Was ist wirklich nachhaltig? Was gerecht?

Die Dorfbewohner von Kruščica hörten im Juni 2017 zum ersten Mal von den Plänen. Dass ihr Fluss umgeleitet und durch Rohre fließen soll, um Strom zu erzeugen. Erst waren es nur Gerüchte. Bis zwei Monate später die Bagger anrückten; der Investor hatte längst die Baugenehmigung. Die Dorfbewohnerinnen entschieden, etwas dagegen zu unternehmen.

Tahira-Mika Tibold und die anderen Frauen haben den Bosnienkrieg erlebt. Mehr als zwanzig Jahre danach sind die Erinnerungen an erlittene Gewalt noch gegenwärtig. Sie verlassen sich bis heute nicht auf Rechtsstaatlichkeit, zu korrupt sind die Strukturen. Aber Frauen wird heutzutage niemand angreifen. Das dachten sie. Deswegen ließen sie ihre Männer nicht auf die Brücke, als die Bagger kamen, um dort das Kraftwerk zu bauen. Sie setzten sich selbst ­darauf - und hatten Erfolg. Die Arbeiter zogen mit den Maschinen wieder ab. Seitdem bewachen die Frauen von Kruščica ihren Fluss. Rund um die Uhr, abwechselnd, in drei Schichten. Neben die Brücke haben sie eine Hütte ­gebaut, aus Brettern und Styroporplatten. Innen auf dem Sandboden stehen sechs Sofas und ein Fernseher.

Doch drei Wochen nachdem die Bagger abgezogen waren, am 24. August 2017, kamen in der Nacht Polizisten. Maida Bilal, eine der Dorfbewohnerinnen, holte ihr Handy heraus und filmte: 50 Frauen sitzen auf der Brücke, dicht an dicht, untergehakt. Vor ihnen stehen Polizisten, martialisch, mit Helmen und schusssicheren Westen. Mehrmals befehlen sie den Frauen, die Brücke zu verlassen. Doch die bleiben sitzen. Bis die Polizisten anfangen, sie zu schlagen und zu treten. Schreie sind zu hören. Sechs Minuten dauert der Tumult, dann schlägt ein Polizist Bilal das Handy aus der Hand. "Es war schrecklich", sagt sie. "Aber es hat uns auch stärker gemacht und zusammengeschweißt", sagt Tibold. Die Männer ihres Dorfes unterstützen sie. Aber die Frauen sind das Gesicht und die Stimme des Widerstandes von Kruščica geworden.

"Wir erleben immer mehr Menschen, die aufstehen und gegen die Zerstörung ihrer Natur und Dörfer protestieren", sagt Nataša Crnković vom Center for Environment. Ihre Organisation unterstützt auch die Frauen von Kruščica. Hilft ihnen, sich mit anderen Dörfern zu vernetzen, ihr Anliegen im Internet zu verbreiten und Spenden für die Anwaltskosten aufzutreiben. Die Strukturen in Bosnien-Herzegowina seien immer noch sehr paternalistisch geprägt, sagt Crnković. Vor allem Männer würden öffentlich ihre Meinung ­sagen und Entscheidungen treffen. Dass Frauen die Proteste anführen, wie in Kruščica, sei schon sehr ungewöhnlich. "Vielleicht setzen sich gerade für die Umwelt, den Schutz ihrer Flüsse und Dörfer besonders viele Frauen ein, weil sie es tra- ditionell eher gewohnt sind, langfristig und nachhaltig zu denken und sich um ihre Gemeinschaft zu kümmern", sagt Crnković.

Sie hat Umweltwissenschaften studiert, spricht fließend Englisch, ist international gut vernetzt und kämpft nicht nur für die Umwelt, sondern auch dafür, junge Menschen für ihr Land zu begeistern. Viele ihrer Bekannten wandern ab, suchen bessere Zukunftsperspektiven im Ausland. "Wir haben eine einmalige Biodiversität auf dem Balkan. Die Natur ist unser Juwel, das wir schützen müssen", sagt Crnković. 96 Prozent der geplanten Kraftwerke liegen in Regionen, die die österreichische Umweltorganisation RiverWatch in einer Studie als besonders schützenswerte Gebiete klassifiziert hat.

RiverWatch und das Center for Environment sind zwei von zahlreichen Organisationen, die sich 2012 zur Kampagne "Save the Blue Heart of Europe" zusammengeschlossen haben. Seitdem werben sie für den Erhalt von mehr als 20 000 Kilometern unberührter Flussläufe auf dem Balkan. Im September 2018 hat die Kampagne in Sarajevo eine Konferenz zum Schutz der Flüsse auf dem Balkan organisiert. Mehr als 250 Vertreter von Organisationen und Wissenschaftlern aus ganz Europa haben sich dort versammelt und vor einer Umweltkatastrophe gewarnt.

Sie plädierten dafür, besonders sensible ökologische Regionen für Wasserkraftprojekte zu sperren. Und appellierten an die Regierungen der Balkanländer, ihre Energiepolitik neu auszurichten, die Abhängigkeit von Wasserkraft zu verringern und stattdessen mehr in Sonnen- und Windenergie zu investieren - denn Alternativen zur Wasserkraft gäbe es ihrer Ansicht nach sehr wohl. Zudem forderten sie Banken auf, die Finanzierung von Projekten in Schutzgebieten einzuschränken und strengere Umweltrichtlinien einzuführen.

Unterstützt wird die Blue-Heart-Kampagne auch von der Firma Patagonia. Das Unternehmen mit Hauptsitz in den USA wirbt damit, seine Outdoor-Bekleidung so langlebig und umweltschonend wie möglich herzustellen. Viele Konzerne setzen mittlerweile auf grünes Marketing. Patagonia ruft seine Kunden sogar dazu auf, möglichst wenig zu kaufen. Eine Haltung, die wiederum Patagonias Image verbessert und letztlich wohl doch den Verkauf steigert.

Wie glaubhaft kann man also Produkte vermarkten und sich gleichzeitig für den Schutz der Umwelt einsetzen? Das fordere natürlich eine ständige Auseinandersetzung, müsse aber nicht im Widerspruch zueinander stehen, sagt Mihela Hladin Wolfe. Die 44-Jährige ist bei Patagonia Direktorin für Umweltinitiativen in Europa. "Die Lösung kann doch nicht sein, nichts mehr zu produzieren. Viel wichtiger ist es, dass Unternehmen Verantwortung übernehmen." Deswegen engagiere sich Patagonia auch direkt in Umweltkampagnen und unterstütze kleine Organisationen.

Hladin Wolfe ist vor vier Jahren auf die Blue-Heart-Kampagne gestoßen. Die gebürtige Slowenin wusste, dass Wasserkraft kein einfaches Thema ist. "Alle haben mir erst gesagt: Bist du verrückt? Wasserkraft ist doch grün. Willst du etwa zurück zur Kohle?" Trotzdem hat sie sich entschieden, einen Dokumentarfilm über die Flüsse auf dem Balkan zu drehen. "Weil man erst richtig begreift, welche Auswirkungen Wasserkraftwerke haben, wenn man die betroffenen Menschen anhört. Wenn man die Bilder der Zerstörung sieht, die die Staudämme und Wasserumleitungen anrichten", sagt sie.

Die Frauen von Kruščica haben durch den Dokumentarfilm Blue Heart von Patagonia internationale Aufmerksamkeit erlangt. Die sei wichtig, sagt Tibold. Um Spenden für die Anwaltskosten und Gerichtsprozesse zu sammeln. Und für den moralischen Rückhalt. Um durchzuhalten. Im Juni 2018 haben sie einen ersten Sieg errungen. Das zuständige Kantonsgericht hat die Baugenehmigung des Wasserkraftwerks für ungültig erklärt. Die Frauen befürchten jedoch, dass der Investor mit einem überarbeiteten Antrag erneut eine Genehmigung erhalten könnte. Deswegen bewachen sie ihren Fluss weiter Tag und Nacht. "Wir werden nicht aufgeben", sagt Tibold. Neben ihrer kleinen Brücke haben sie ein Schild aufgestellt. Darauf steht in weißer Schrift auf blauem Grund: "Brücke der mutigen Frauen von Kruščica".

© SZ Plan W vom 03.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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