Gesellschaft:"Das ist ungerecht!"

Gesellschaft: Gerechtigkeit, ein Thema für Kinder und Philosophen.

Gerechtigkeit, ein Thema für Kinder und Philosophen.

(Foto: Soren Astrup Jorgensen/Unsplash)

Männer verdienen mehr als Frauen, Wessis mehr als Ossis und die Wäsche wäscht in Beziehungen immer der ohne Penis. Welche Regeln müssten gelten, um das zu ändern? Ein Gedankenexperiment.

Essay von Julia Friedrichs

Wer Kinder erzieht, kennt ihn, den gellenden Schrei, der durch Zimmer und Küche hallt, oft mehrmals am Tag: "Das ist ungerecht!" Das Eis des einen scheint größer, die Fernsehzeit des anderen länger. Ist der Ballon des einen nicht dicker aufgeblasen? Fliegt er nicht höher? Strahlt er nicht viel heller? "Ungerecht!"

Der Sinn für Gerechtigkeit scheint ein Urgefühl des Menschen zu sein. Forscher teilten zum Beispiel vor den Augen von Kleinkindern Süßigkeiten in zwei Portionen auf. Ein Kind war der Entscheider. Zog es an einem grünen Hebel, bekamen beide Bonbons - das entscheidende Kind allerdings die kleinere Portion. Wählte es den roten, gingen beide Kinder leer aus. Ganz egal, ob die Wissenschaftler dieses Experiment in den USA, Indien oder Uganda durchführten, das Resultat war immer ähnlich: Fast immer lehnte ein Kind, dem weniger Süßigkeiten angeboten wurden, das Angebot ab. Lieber hatte es nichts, als das Gefühl ungerecht behandelt worden zu sein.

Der Süßigkeitentest ist die Junior-Ausgabe des berühmten Ultimatumspiels. Dabei bekommt eine von zwei Testpersonen zehn Euro mit dem Auftrag, das Geld aufzuteilen. Der andere akzeptiert den Vorschlag oder lehnt ihn ab, dann bekommt keiner etwas. In zahllosen Wiederholungen haben Forscher herausgefunden: Liegt das Angebot bei weniger als 40 Prozent, läuft es wie bei den Kleinkindern. Die Testpersonen sagen Nein und verzichten aus Empörung über die Ungerechtigkeit.

Vieles deutet also darauf hin, dass Fairness ein Urbedürfnis des Menschen ist. Sogar unser Körper reagiert auf Ungerechtigkeit mit Stresssymptomen: Das Herz schlägt schneller, das Gehirn signalisiert Alarm. Und doch leben wir als von Natur aus Fairness liebende Menschen in einem Land, dessen Zeugnis in Sachen Gerechtigkeit allenfalls durchwachsen ausfällt.

Es gäbe sehr gute Zensuren: Jeder ist im Prinzip vor dem Gesetz gleich. Wer krank ist, hat das Recht, einen Arzt zu sehen. Wer mehr verdient, übernimmt in der Regel mehr von den Gemeinschaftsausgaben. Viele offensichtliche Ungerechtigkeiten sind in den letzten Jahren beseitigt worden: Auch verheiratete Frauen dürfen selbst entscheiden, ob sie arbeiten. Männer dürfen Männer heiraten. Eltern ihre Kinder nicht mehr schlagen.

Aber im Detail hapert es:

Wer Ali heißt, hat schlechtere Chancen auf Job und Wohnung als Adam. Andrea verdient häufig weniger als Andreas. Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung besetzen Ostdeutsche kaum Spitzenpositionen im Land. Die Bundeskanzlerin stammt aus Templin. Aber sonst? Von 24 Präsidenten der Oberlandesgerichte stammt keiner aus Ostdeutschland, von den 195 Vorstandsmitgliedern der DAX-Unternehmen gerade einmal fünf. Auch von den 56 Staatssekretären der Bundesregierung kommen nur fünf aus dem Osten.

Eine Aufzählung, die übrigens, wenn man das Wort Ostdeutsche durch Frau ersetzt, ganz ähnlich klingt: Immerhin acht Oberlandesgerichte haben Präsidentinnen, aber kein DAX-Konzern wird von einer Frau geleitet. Obwohl die Bundesregierung sich schon längst zur Gleichstellung bekennt, sieht es in den Ministerien nicht anders aus: Gerade hat ein Rechercheteam von ZEIT ONLINE berechnet, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik mehr Männer auf diesem Posten gab, die Hans hießen, als Staatssekretärinnen, also Frauen. Schon jetzt ist das Foto ikonisch, mit dem das Innen-, Bau- und Heimatministerium die neue Führungsriege feierte: neun mittelalte Männer, die sich nur in Körpergröße und Grauton des Anzugs unterscheiden.

Die Reihe ließe sich lange fortsetzen: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Viele von ihnen leben bei armen Müttern: 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. Jeder Dritte ist arm, hat rund 1000 Euro im Monat, um sich und ein Kind zu versorgen. Das verfügbare Durchschnittseinkommen von Vätern dagegen steigt nach einer Trennung.

Die Hälfte der Menschen in diesem Land hat weniger als 17 000 Euro Vermögen. Die Reichsten Dutzende Milliarden. Während über den "Gender Pay Gap", also den Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, oft und häufig debattiert wird, spricht über den "Gender Wealth Gap" kaum jemand. Die Daten sind unzureichend, aber klar ist: Männer besitzen mehr Vermögen als Frauen. Die Rankings der Reichen sind männlich. Wenn es eine Frau auf die vorderen Plätze schafft, wie Susanne Klatten oder Liz Mohn, ist sie meist Erbin oder Witwe.

Wie ist all das mit dem menschlichen Grundbedürfnis nach Gerechtigkeit vereinbar?

Dreierlei hilft beim Verdrängen: Im Gegensatz zum Ultimatumspiel sitzen sich derjenige, der über eine unfaire Aufteilung entscheidet, und derjenige, der damit leben muss, in den seltensten Fällen direkt gegenüber. Die Wege, auf ­denen es zu ungerechten Resultaten kommt, sind oft länger und komplexer. Und wir sind sehr gut darin, Erfolge uns selbst zuzuschreiben, selbst wenn wir eigentlich wissen, dass es kein fairer Wettbewerb war.

Für meine Recherchen habe ich zum Beispiel immer wieder mit Schülern von Elite-Internaten gesprochen. Schüler, die wussten, dass ihre Eltern rund 30 000 Euro im Jahr für den Platz zahlten.

Die Reaktionen auf die Frage "Ist es fair, wenn das Geld eurer Eltern euch bessere Chancen verschafft?" fielen oft ähnlich aus. Es gab die Ignoranten, die sich die Tatsache, dass unter ihren Mitschülern keine Kinder von Arbeitern oder Arbeitslosen waren, so erklärten: "Die sind einfach nicht so schlau." Es gab die Fatalisten, die sagten: "Nein, fair ist es nicht. Aber es gibt halt keine gerechte Welt."

Und es gab die Schönredner, die meinten: "Ja, wir haben bessere Chancen. Aber wir verdienen unseren Erfolg auch. Wir leisten mehr." Oft fügte diese Gruppe an: Jeder, der wirklich wolle, könne es doch auf anderem Wege schaffen. Begründungen, die viele Erwachsene in Spitzenpositionen so ungefiltert zwar nicht mehr aussprechen, aber so verkehrt auch nicht finden.

"Deine Ohrringe wackeln so schön, wenn du dich aufregst"

Für die Dokumentation und das Onlineprojekt Ungleichland habe ich gemeinsam mit Kolleginnen Abgeordnete im Bundestag gefragt, warum die Zusammensetzung des Parlaments nicht der der Bevölkerung entspricht. Der Anteil der Frauen liegt bei 30 Prozent, nur neun Abgeordnete ­haben einen Hauptschulabschluss, nur acht Prozent einen Migrationshintergrund, viel weniger als der Bevölkerungsschnitt. Der Tenor der Antworten: Das alles ist nicht schön. Aber kaum zu ändern.

Obwohl vor allem die Frauen unter den Abgeordneten ausreichend Anekdoten aus dem Parlamentsalltag erzählten, die zeigten, wie unangenehm solch eine männerdominierte Arbeitswelt auch im 21. Jahrhundert noch immer sein kann. Der Klassiker: Statt der Argumente wurde das Aussehen der Parlamentarierinnen kommentiert. Margit Stumpp (Grüne) berichtete, dass ihr Männer gratulierten, "bemerkenswert kompetent" zu sein, und sie im Ausschuss schon mit der Bemerkung "Sie haben den schönsten Arsch im Gremium" empfangen wurde.

Katja Kipping (Die Linke) entgegnete ein Parteifreund inmitten einer inhalt­lichen Auseinandersetzung: "Deine Ohrringe wackeln so schön, wenn du dich aufregst." "So hässlich bist du doch gar nicht, dass du in die Politik gehen musst", zitierte Ulla Schmidt (SPD) einen ­Gesprächspartner. Sexismus scheint auch im Parlament vor allem eines der vielen Werkzeuge zu sein, mit denen Eindringlinge und Aufsteiger abgewehrt und kleinge­halten werden.

Was also tun?

Die Zustände beklagen oder hinnehmen, dass Ungerechtigkeit schon immer Teil des Menschseins war? Das berühmteste Gedankenexperiment, das erklärt, wie das Ziel einer vollkommen gerechten Gesellschaft zu erreichen wäre, klingt tatsächlich erst mal nach Spinnerei.

John Rawls, einer der prägenden Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat es in seinem Hauptwerk eine Theorie der Gerechtigkeit entworfen. Er erdenkt sich einen Urzustand, in dem alle Menschen mit einem "Schleier des Nichtwissens" bedeckt sind. Niemand, so Rawls Idee, wisse, welchen Platz er in der Gesellschaft einnehmen wird: ob Mann oder Frau, ob vermögend oder Hartz IV, ob mit türkischen oder sächsischen Wurzeln, ob als Juristin im Bundestag oder als Werkvertragsarbeiter auf der Baustelle.

Diesen Unwissenden überträgt Rawls die Aufgabe zu entscheiden, wie die Gesellschaft strukturiert sein soll. Welche Arbeit wird wie bezahlt? Wer macht warum Kar­riere? Wie hoch sollen die Mieten und die Kaufpreise für Woh­nungen sein?

Auf diesem Wege würden sich Menschen auf ein komplett faires Regelwerk einigen. Rawls hofft, eine solche Gesellschaft würde Lohnunterschiede davon abhängig machen, wer schwierigere oder relevantere Arbeiten erledige - und nicht, könnte man ergänzen, wer welches Geschlecht hat. Sie würde die Abstände tendenziell gering halten. Sie würde Menschen in Not gut versorgen, weil jeder der Entscheider damit rechnen müsste, sich selbst in dieser Lage wiederzufinden. Der Charme von Rawls Idee liegt darin, dass er nicht für vollkommene Gleichheit plädiert, weil er weiß, dass Menschen nicht gleich sind, dass sie anders aussehen, andere Interessen haben, unterschiedlichen Einsatz bringen. Aber in Rawls Welt müssen Ungleichheiten logisch hergeleitet werden und allen gerecht erscheinen.

Dass ein Partner, selbst wenn beide arbeiten, daheim fast immer kochen, putzen und die Wäsche waschen muss, nur weil der eine einen Penis hat und der andere nicht, ließe sich vermutlich schwer begründen. Ebenso wenig, dass die Arbeit einer Krankenschwester schlechter bezahlt wird als die eines Mechatronikers oder dass es Frauen sind, die sich um die ganz jungen und ganz alten Menschen in einer Familie kümmern.

Aus Rawls Idee lässt sich aber auch Konkretes ableiten. Zum Beispiel ein Plädoyer dafür, dass Machtpositionen ­rotieren müssen, dass auch Entscheider mal in die Position des Befehlsempfängers kommen sollten, dass vielleicht auch mal das Los darüber entscheidet, wer über Regeln bestimmt.

Letztendlich funktioniert sein Gedankenexperiment doch wie der alte Trick beim Kuchenteilen. Der, der die ­Stücke schneidet, weiß nicht, welches später auf seinem Teller landen wird. Wer Kinder erzieht, weiß, dass das die einzige Methode ist, den Schrei "Das ist ungerecht!" verlässlich zu vermeiden.

Julia Friedrichs ist Autorin mehrerer Bestseller zum Thema soziale Gerechtigkeit. Mit ihr sprechen wir auch in der aktuellen Folge des Plan-W-Podcasts. Diese und alle anderen Folgen gibt es unter sz.de/thema/Plan_W_Podcast sowie bei iTunes, Spotify und in jeder Podcast-App.

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