Kommentar:Weg mit den Hinterzimmern

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Aktienindizes wie der amerikanische S&P 500 gelten als unbestechliche Ikonen. Doch das Geschäft entpuppt sich als hochgradig willkürlich. Die Finanzaufsicht muss endlich aufwachen.

Von Victor Gojdka

Wenn von Aktienindizes wie dem Dax die Rede ist, finden die Börsenexperten oft blumige Worte: Vom Oberhaus der Finanzwelt ist dann die Rede, von der ersten Börsenliga, von einem Eliteklub am Parkett. Denn kaum etwas ist unter Unternehmen so begehrt und wertvoll wie die Mitgliedschaft in einem der großen Börsenindizes, also dem deutschen Leitindex Dax, seinem amerikanischen Pendant S&P 500 oder gar dem Weltindex MSCI World. Hier Mitglied zu sein, ist nicht bloß ein unermesslicher Prestigegewinn für die eigene Firma, viele Privatanleger folgen mit ETF-Indexfolgern inzwischen eins zu eins den großen Börsenindizes der Welt. Die einstigen Barometer sind somit längst zu Wegweisern für Billionensummen geworden.

Kaum eine Institution erscheint auf den ersten Blick so neutral, vertrauenswürdig und unbestechlich wie die renommierten Kurskörbe. Doch Finanzaufsichten und Fachpolitikerinnen müssen endlich aufwachen: Klammheimlich betreiben manche der Indexanbieter noch immer eine Hinterzimmer-Politik wie aus dem vergangenen Jahrtausend, als durch holzgetäfelte Konferenzräume noch Zigarillodunst wehte. Mehrere Indexanbieter müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, bei ihren Indexbesetzungen wiederholt Willkür walten zu lassen - und vielleicht sogar käuflich zu sein.

Ins Visier dreier Finanzwissenschaftler geriet dabei jüngst ausgerechnet der amerikanische Leitindex S&P 500. So fand das Forscherteam in einer druckfrischen Studie heraus, dass nicht einmal 70 Prozent der Aufsteiger in den US-Leitindex alle Kriterien erfüllen, die der Indexbetreiber S&P Dow Jones öffentlich eigentlich auflistet. Und das obwohl an den US-Börsen stets genug Firmen existierten, die alle Kriterien der S&P-Indexmacher ohne Probleme erfüllt hätten. Im Klartext: Bei vielen Entscheidungen behält sich das klandestine Indexkomitee ausdrücklich Entscheidungsspielraum vor. Und agiert damit nicht anders als der frech dreinblickende Türsteher vor dem Szeneklub, in den auch jeder rein will.

Schlimmer noch: Wenn in einem Quartal wieder ein neuer Platz im S&P 500 zu vergeben war, schienen viele der potenziellen Aufsteiger verstärkt Anleihe-Ratings bei der Ratingagentur S&P zu kaufen. Pikant: Als der Indexanbieter vor Jahren ausländische Firmen aus dem US-Leitindex S&P 500 aussperrte, bestellten vormalige Aufstiegskandidaten aus dem Ausland nach Erkenntnissen der Forscher plötzlich weniger Ratings bei S&P. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt.

Die Selbstverteidigung der Indexanbieter hat indes nicht viel mehr zu bieten als Standardsprüchlein: Vermarktung und Analyse seien zum Beispiel beim Indexanbieter S&P Dow Jones akribisch getrennt. Ein ehemaliges Mitglied des dortigen Indexkomitees sah sich sogar bemüßigt, seinem einstigen Arbeitgeber dieser Tage öffentlich beiseite zu springen. Niemals habe er mit Personal des Rating-Arms sprechen dürfen, ohne dass eine Anwaltskanzlei Emissäre zu solchen Unterredungen geschickt hätte.

Doch auch andere Kurskorb-Flechter müssen sich schwerwiegende Vorwürfe gefallen lassen: So gaben Finanzexperten in einer Umfrage des Indexanbieters FTSE Russell zu Protokoll, sie wollten keine Titel in Prestigeindizes dulden, die allen normalen Aktionären zusammen nur weniger als 25 Prozent der Stimmrechte einräumen. Statt demokratisch den Ergebnissen der Befragung zu folgen, drückte FTSE Russell diese Mitsprachequote bei seinen Indizes willkürlich auf fünf Prozent. Einfach so.

Niemand in der Finanzwelt würde über Willkür und moralische Grauzonen klagen, wenn alle Indexanbieter ihre Börsenbarometer endlich nach bindenden und nachvollziehbaren Kriterien zusammensetzen würden. Wenn sie im Leitindex S&P 500 vereinfacht gesagt zum Beispiel die Liste der wertvollsten US-Börsenunternehmen von oben nach unten abhaken würden. Wenn statt Gutdünken und Gusto-Entscheidungen endlich kühle Arithmetik angesagt wäre. Da sich die Indexanbieter jedoch schon seit Jahren immer erfolgreich wegducken, wenn wieder ein Skandal die Börsenbarometer-Szene erschüttert, müssen Finanzaufsichten weltweit diese Unternehmen endlich schärfer aufs Korn nehmen.

Dabei läge eine unangreifbare Indexpolitik schon im ureigensten Interesse der Kurskorb-Anbieter. Mit undurchsichtigen Entscheidungen, kaum verständlichen Methodenpapieren und einer überzogenen Beinfreiheit verspielen manche Indexanbieter bei Anlegerinnen und Anlegern jedes Vertrauen. Dabei ist ausgerechnet das ihr wichtigstes Kapital.

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