Wer sich ein wenig umschaut, der könnte auf die Idee kommen, dass gerade überall im Land gestreikt wird. Die Postboten legen die Arbeit nieder, die Kita-Erzieher, die Flughafen-Mitarbeiter, die Krankenpfleger. Die Menschen merken das besonders, weil viele öffentliche Bereiche betroffen sind - und bald könnten sie es noch deutlicher spüren. Nicht mehr lange, dann könnten auch wieder Züge für ein paar Stunden - oder auch deutlich länger stillstehen.
Bei der Bahn stehen in diesem Jahr zwei Tarifrunden an. Von diesem Dienstag an verhandelt der Konzern mit der großen Eisenbahngewerkschaft EVG, im Herbst dann folgt die Runde mit der deutlich kleineren Lokführergewerkschaft GDL, deren Chef Claus Weselsky den Menschen hierzulande aus früheren massiven Streikwellen noch bestens bekannt ist.
Die EVG, die zuerst dran ist, gilt als die zahmere, man könnte auch sagen: konstruktivere der beiden Gewerkschaften. Trotzdem sollten die Bahnkunden nicht damit rechnen, dass in diesem Frühjahr alles so geräuschlos vonstattengeht wie in früheren Jahren. Das liegt an der äußerst hohen Forderung, die die EVG beschlossen hat: Zwölf Prozent mehr Geld verlangt sie für ihre Beschäftigten, genau genommen ist ihre Forderung aber noch deutlich höher. Auf durchschnittlich satte 18 Prozent mehr kommen Bahn-Insider. Mehrere Milliarden Euro dürften solche Forderungen den Staatskonzern wohl kosten, wenn sie umgesetzt würden - und entsprechend wohl auch Passagiere und Steuerzahler belasten.
Klar ist: Die Verhandlungen werden so schwierig wie selten. Auf elf Seiten listet die EVG gegenüber der Bahn 57 Einzelforderungen auf. So besteht die Gewerkschaft darauf, dass jeder von dem Abschluss betroffene Beschäftigte mindestens 650 Euro brutto monatlich mehr bekommen soll. Für Niedrigverdiener bei der Bahn - Reinigungskräfte oder das Sicherheitspersonal zum Beispiel - entspräche das einer Gehaltserhöhung von bis zu 30 Prozent. Von einer "herausfordernden" Lage spricht man bei der Bahn und davon, dass der Konzern vom Ausmaß der Forderungen überrascht sei. Der Konzern müsse auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit achten und auch darauf, dass Jobs langfristig sicher seien.
Die EVG rechtfertigt die hohen Forderungen einerseits mit der ausgesprochen hohen Inflation, die im vergangenen Jahr bei 7,9 Prozent lag und in diesem Jahr laut Prognosen hoch bleiben soll. Andererseits verweist sie darauf, dass sie sich beim letzten Abschluss 2020, als wegen der Corona-Pandemie die Menschen den Zügen fernblieben, aus Verantwortung dem Konzern gegenüber zurückgehalten habe.
Die EVG erwartet ein schnelles Angebot der Bahn
Damals vereinbarte die EVG Jobgarantien und eine Lohnerhöhung von 1,5 Prozent, später kam noch eine Corona-Prämie von 1100 Euro hinzu - Geld, das die steigende Inflation schnell wieder aufgefressen hat. Schon damals kündigte EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch eine "harte Auseinandersetzung ab dem 1. März 2023" an - sie steht jetzt bevor, wenn es um den neuen Tarifvertrag geht. Dabei dürfte Loroch - neben den Geldbeuteln seiner Mitglieder - auch die kämpferischer auftretende Gewerkschaft GDL im Blick haben, mit der die EVG in Konkurrenz steht.
Die EVG betont, schnell zu einem Ergebnis kommen zu wollen. Für "Tarif-Folklore" - also die üblichen langen Verhandlungsrunden - sei keine Zeit. Dafür sei die Lage bei den Niedrigverdienern im Konzern zu prekär. Manche, bei denen das Geld schon immer knapp gewesen sei, müssten nun am Monatsende entscheiden, ob sie das Auto volltankten oder in den Supermarkt gingen; für beides reiche es nicht mehr.
Die EVG erwartet deshalb ein schnelles Angebot der Bahn und denkt andernfalls über Warnstreiks nach. Die dürften näher rücken, denn nach Angaben aus Bahnkreisen will der Konzern nicht direkt mit einem eigenen Angebot auf den EVG-Vorstoß reagieren. Da die Friedenspflicht am 28. Februar endet, sind damit ab Anfang März Warnstreiks möglich.
Und die dürften es in sich haben. Denn schon eher kleinere Warnstreiks haben bei der Bahn in der Regel große Auswirkungen auf den Verkehr. Sie trafen in den vergangenen Jahren immer wieder Millionen Reisende und Pendler. So musste die Bahn beispielsweise im Dezember 2018 wegen Warnstreiks der Gewerkschaft EVG den Fernverkehr bundesweit stundenlang einstellen. Die große Streikwirkung der EVG liegt auch daran, dass deren Mitglieder oft an zentralen Stellen im System Bahn arbeiten. Wird etwa ein Stellwerk von wenigen Mitarbeitern bestreikt, hat das gleich massive Auswirkungen auf den gesamten Bahnverkehr einer Region. Die Gewerkschaft kann also mit vergleichsweise wenig Streikaufwand große Wirkung erzielen - und viele Passagiere treffen.
Nach dem Start am Dienstag in Fulda ist eine zweite Verhandlungsrunde für den 14. und 15. März angesetzt. Spätestens dann dürfte klar werden, ob es zu schnellen Streiks kommt. Werden die Verhandlungen im Frühsommer abgeschlossen, bleibt den Verhandlern bei der Bahn und auch den Passagieren wohl wenig Zeit zum Durchschnaufen. Im Oktober läuft der Tarifvertrag mit der kämpferischen Lokführergewerkschaft GDL aus. Eine wahrscheinlich noch etwas höhere Forderung an die Bahn dürfte dann zu noch schwierigeren Gesprächen führen und den Bahnkunden zur Weihnachtszeit den nächsten Streik bescheren.