Das Bild von Südeuropa in den internationalen Medien ist das eines Unruheherdes mit unberechenbaren Wirtschaftsstrukturen, der die Stabilität des Kontinents bedroht. In der Tat hat Spanien seit 2011 einen Zustand politischer Instabilität erlebt, so werden Szenarien denkbar, die bis vor Kurzem noch als Science Fiction erschienen. Ich habe den Eindruck, dass man das aus nördlicher Sicht nur als störendes Getöse empfindet. Doch das ist nicht so. In Wahrheit ist es ein kreativer Prozess, eine Neuordnung, die auf den ersten Blick zerstörerisch wirken mag. Aber er stellt keine Bedrohung für Europa dar, sondern eine Chance.
Der Auslöser für die gegenwärtige Lage Spaniens war die Krise von 2008. Damals sank die Wirtschaftsleistung binnen Jahresfrist um vier Prozent, die Arbeitslosigkeit betrug in den vergangenen Jahren 25 Prozent; die Schulden, sie liegen bei hundert Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist im Übrigen nicht die Folge von Verschwendung: 2007 konnte Spanien sogar einen Haushaltsüberschuss ausweisen. Das Defizit ist vielmehr das Resultat sinkender Steuereinnahmen, ausgelöst durch den wirtschaftlichen Stillstand - und einer fiskalischen Struktur, die Arbeit überproportional stärker besteuert als Kapital.
César Rendueles, geboren 1975, ist spanischer Philosoph und Soziologe, der Popkultur und digitalen Wandel erforscht. Er lehrt in Madrid. Im Herbst erscheint sein Buch "Soziophobie". Übersetzung: Sebastian Schoepp.
(Foto: Privat)Deshalb ist die Schuldensituation Spaniens durch die orthodoxen Spar-Rezepte der Troika schlimmer und nicht besser geworden. Es ist von einem Land mit mäßiger sozialer Ungleichheit zu dem Land der Euro-Zone mit den höchsten Einkommensdifferenzen geworden. Das Risiko für Kinderarmut liegt bei 30 Prozent, es gab Zeiten, da wurden fünfhundert Immobilien am Tag zwangsgeräumt, weil die Käufer überschuldet waren.
Das hat den Konsens aufgebrochen, der Spanien in den vergangenen 40 Jahren bestimmte. Sozialdemokraten und konservative Volkspartei (PP) hatten in ihren jeweiligen Regierungszeiten harte Reformen durchgeführt, die als einzige Wirtschaftsformen Tourismus und Immobilien übrig ließen sowie einen äußerst fragilen Arbeitsmarkt. Das führte zu einer neuen sozialen Dynamik, die seit 2011 in dem Aufschrei mündet: "Ihr repräsentiert uns nicht!" Die traditionellen Parteien werden fast nur noch von älteren Menschen unterstützt, die Hälfte der PP-Wähler ist über 50.
Die Einführung einer gemeinsamen Währung war Selbstmord in Zeitlupe
In der spanischen Gesellschaft hat sich etwas grundlegend geändert. Wohin das führen wird, ist noch nicht abzusehen. Die neuen Formen politischer Einmischung sind ein Teil dieser Umwälzungen: Zu den Europawahlen 2014 entstand die Partei Podemos. Niemals zuvor hat das Europaparlament in Spanien so viel Aufmerksamkeit erregt, wie seit dem Zeitpunkt, seitdem die Partei dort vertreten ist. Im vergangenen Herbst schaffte sie es in den Umfragen kurzfristig sogar, stärkste Partei zu sein.
Ich glaube, dass der Aufstieg von Podemos und von Syriza einen Ausweg aus einem europäischen Dilemma weisen kann. Um das zu erkennen, muss man nur die längerfristige Entwicklung der EU betrachten. Denn die Situation Spaniens, Griechenlands und Portugals sagt sehr viel aus über die Grenzen des europäischen Projekts. Sie traten Europa in einem Moment des Übergangs zwischen alter und neuer EU bei, vom Europa einer sozialen Marktwirtschaft hin zu einem Europa des Finanzkapitalismus.
Alle drei Länder sind Teil der Euro-Zone, aber sie haben keine neoliberale Shock-Therapie durchgemacht wie die Länder des Ostens. Sie haben erst nach und nach entdeckt, dass sich die EU in ein Instrument des Finanzkapitalismus verwandelt hatte. Die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Finanz- und Sozialpolitik war Selbstmord in Zeitlupe.