Das Bild von Südeuropa in den internationalen Medien ist das eines Unruheherdes mit unberechenbaren Wirtschaftsstrukturen, der die Stabilität des Kontinents bedroht. In der Tat hat Spanien seit 2011 einen Zustand politischer Instabilität erlebt, so werden Szenarien denkbar, die bis vor Kurzem noch als Science Fiction erschienen. Ich habe den Eindruck, dass man das aus nördlicher Sicht nur als störendes Getöse empfindet. Doch das ist nicht so. In Wahrheit ist es ein kreativer Prozess, eine Neuordnung, die auf den ersten Blick zerstörerisch wirken mag. Aber er stellt keine Bedrohung für Europa dar, sondern eine Chance.
Der Auslöser für die gegenwärtige Lage Spaniens war die Krise von 2008. Damals sank die Wirtschaftsleistung binnen Jahresfrist um vier Prozent, die Arbeitslosigkeit betrug in den vergangenen Jahren 25 Prozent; die Schulden, sie liegen bei hundert Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist im Übrigen nicht die Folge von Verschwendung: 2007 konnte Spanien sogar einen Haushaltsüberschuss ausweisen. Das Defizit ist vielmehr das Resultat sinkender Steuereinnahmen, ausgelöst durch den wirtschaftlichen Stillstand - und einer fiskalischen Struktur, die Arbeit überproportional stärker besteuert als Kapital.
Deshalb ist die Schuldensituation Spaniens durch die orthodoxen Spar-Rezepte der Troika schlimmer und nicht besser geworden. Es ist von einem Land mit mäßiger sozialer Ungleichheit zu dem Land der Euro-Zone mit den höchsten Einkommensdifferenzen geworden. Das Risiko für Kinderarmut liegt bei 30 Prozent, es gab Zeiten, da wurden fünfhundert Immobilien am Tag zwangsgeräumt, weil die Käufer überschuldet waren.
Das hat den Konsens aufgebrochen, der Spanien in den vergangenen 40 Jahren bestimmte. Sozialdemokraten und konservative Volkspartei (PP) hatten in ihren jeweiligen Regierungszeiten harte Reformen durchgeführt, die als einzige Wirtschaftsformen Tourismus und Immobilien übrig ließen sowie einen äußerst fragilen Arbeitsmarkt. Das führte zu einer neuen sozialen Dynamik, die seit 2011 in dem Aufschrei mündet: "Ihr repräsentiert uns nicht!" Die traditionellen Parteien werden fast nur noch von älteren Menschen unterstützt, die Hälfte der PP-Wähler ist über 50.
Die Einführung einer gemeinsamen Währung war Selbstmord in Zeitlupe
In der spanischen Gesellschaft hat sich etwas grundlegend geändert. Wohin das führen wird, ist noch nicht abzusehen. Die neuen Formen politischer Einmischung sind ein Teil dieser Umwälzungen: Zu den Europawahlen 2014 entstand die Partei Podemos. Niemals zuvor hat das Europaparlament in Spanien so viel Aufmerksamkeit erregt, wie seit dem Zeitpunkt, seitdem die Partei dort vertreten ist. Im vergangenen Herbst schaffte sie es in den Umfragen kurzfristig sogar, stärkste Partei zu sein.
Ich glaube, dass der Aufstieg von Podemos und von Syriza einen Ausweg aus einem europäischen Dilemma weisen kann. Um das zu erkennen, muss man nur die längerfristige Entwicklung der EU betrachten. Denn die Situation Spaniens, Griechenlands und Portugals sagt sehr viel aus über die Grenzen des europäischen Projekts. Sie traten Europa in einem Moment des Übergangs zwischen alter und neuer EU bei, vom Europa einer sozialen Marktwirtschaft hin zu einem Europa des Finanzkapitalismus.
Alle drei Länder sind Teil der Euro-Zone, aber sie haben keine neoliberale Shock-Therapie durchgemacht wie die Länder des Ostens. Sie haben erst nach und nach entdeckt, dass sich die EU in ein Instrument des Finanzkapitalismus verwandelt hatte. Die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Finanz- und Sozialpolitik war Selbstmord in Zeitlupe.
Dass es so weit kommen konnte, liegt an einem Konstruktionsfehler: Seit ihrer Gründung stützt sich die EU auf eine Theorie, die ihren Ursprung in der Aufklärung hat. Sie besagt, dass erfolgreiche Wirtschaftsbeziehungen Frieden und Verständigung zwischen den Völkern fördern. 1950 nahm der französische Politiker Robert Schuman diese These auf, seitdem gilt: Der gemeinsame Markt geht dem politischen Einigungsprozess voran.
Deshalb haben wir heute eine EU-Kommission, die von Technokraten beherrscht ist und ein eher dekoratives EU-Parlament. Deshalb sind die machtvollsten Organe der Euro-Zone die Euro-Gruppe der EU-Finanzminister und der Präsident der Europäischen Zentralbank. Diese Machtkonstruktion entzieht sich demokratischer Kontrolle.
Vierzig Jahre lang schien die wirtschaftsbasierte EU ein erfolgreiches Experiment zu sein, das die friedenstiftende Kraft des Marktes bestätigte. Ich glaube jedoch, dass es sich dabei um einen Mythos handelt. Nur bis Ende der 1970er-Jahre wuchs die kommerzielle Einigung Europas im gleichen Tempo wie der Wohlfahrtsstaat, und diese Gleichzeitigkeit war ihr Erfolgsgeheimnis. Dieser Prozess wurde von den USA unterstützt, die keynesianische Politik (in der der Staat ein wichtiger Akteur in der Wirtschaft ist) als Bollwerk gegenüber der sowjetischen Expansion verstanden. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien der Wohlfahrtsstaat nicht mehr nötig zu sein und wurde massiv infrage gestellt, marktliberales Denken gewann die Oberhand. Seitdem ist die EU eine leere Hülle.
Das einzige, was uns zusammenhält, seien die Interessen der Banken
Die einzige Hoffnung für Europa ist, dass die EU-Länder ihre Souveränität zurückerlangen, die der Markt an sich gerissen hat. In diesem Sinne hätten Griechenland und die Regierung Tsipras Europa von seinen Zerfallstendenzen befreien können. Ich glaube, dass sich die kurzfristigen Interessen Griechenlands mit denen der Mehrheit der Europäer auf mittlere und lange Sicht sogar decken: Die Vorschläge des früheren griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis und des spanischen Podemos-Chefs Pablo Iglesias gehörten immerhin einst zum Standardrepertoire der europäischen Sozialdemokratie. Die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs hingegen sagen uns, das einzige, was Portugiesen, Deutsche, Holländer und Griechen zusammenhält, seien die Interessen unserer Banken.
Jedoch ist der Demokratisierungsprozess, der im Süden begonnen hat, so ambitioniert, dass er die Möglichkeiten eines einzelnen Landes sprengt. Und Programme wie das von Podemos für soziale Gerechtigkeit können sich nur weiterentwickeln, wenn die Menschen in den EU-Ländern gemeinsam handeln.
Die Voraussetzungen dafür sind günstig: Die EU ist der größte Wirtschaftsraum der Welt, seine Länder haben solide demokratische Traditionen. Deshalb, so sagte schon der Politologe Peter Gowan, ist Europa in der Lage, eine andere Form der Globalisierung vorzuschlagen, eine gerechtere, demokratischere und sozialere. Genau darauf zielen die Veränderungen im Süden Europas ab.