Mailänder Möbelmesse:Zurück zur Natur

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Verspielt in Mailand: Die Leuchten "Stellar Nebula" erinnern an Seifenblasen, die von der Decke hängen. (Foto: Hersteller)

Massivholz, Seifenblasen, alpine Ästhetik: Viele neue Entwürfe auf dem Salone del Mobile schlugen eher leise und besinnliche Töne an. Es gab aber auch eine Ausnahme.

Von Max Scharnigg

Geburtstag in Mailand! Die 60. Ausgabe des Salone del Mobile wurde schon Monate im Voraus ausgiebig und von allen Seiten betrommelt. Schließlich sollten nach zwei Jahren mit Corona-Ausfällen und einer stark reduzierten Version der wichtigsten Möbelmesse der Welt diesmal Stadt und Messehallen endlich wieder so aus den Nähten platzen wie ein geliebter und eben 60 Jahre alter Polstersessel. Es gab dann auch so viele Empfänge, Partys und Vernissagen in der Stadt zu besuchen wie nie zuvor; gleichzeitig schienen die Objekte, um die man sich dabei scharte, vergleichsweise egal zu sein. Außerdem herrschte in den Messehallen immer noch eine gewisse, nachdenkliche Ruhe - vielleicht lag es an dem weitgehend ausbleibenden Fachpublikum aus China und Russland, vielleicht an den Temperaturen jenseits der 30 Grad oder dem Versuch, Mindestabstände einzuhalten. Etliche der jungen und lauten Hersteller waren aber auch gar nicht nach Mailand gekommen, weil dieser ungewohnte Sommer-Salone Terminkollisionen mit anderen und hipperen Möbelwochen auf der Welt verursachte. So schienen die spektakulären Premieren und Designs etwas weniger geworden zu sein und auch der von der Messe ausgegebene Slogan "Living with Nature" erschöpfte sich vor Ort im relativ innovationsarmen Integrieren von Grün- in Büroflächen und umgekehrt. Es war also eher nicht der gewaltige Big Bang, den sich die Veranstalter vielleicht erhofft hatten, zumal die Branche während der Lockdowns im Vergleich zu anderen ja überwiegend gute bis glänzende Geschäfte gemacht hatte. Aber die gestiegenen Rohstoffpreise gerade bei Holz, die anhaltenden Lieferprobleme zum Beispiel für Lacke und andere Farbprodukte ließen die Hersteller vielleicht auch etwas verhalten auftreten. Das ist aber durchaus begrüßenswert, denn bis zur Corona-Pause war die Einrichtungsbranche drauf und dran, in einen Kollektions- und Konsumrausch zu verfallen, wie ihn die Modewelt vorgemacht hatte: noch mehr Neuigkeiten, noch grellere Auftritte, mit denen sich die Marken gegenseitig übertrumpfen wollten. Aber ein Sofa ist nun mal kein Sommerkleid und ein Beistelltisch keine Sandale, diese Dinge haben eine längere Halbwertszeit und etwas mehr Zeit im Scheinwerferlicht verdient. Das scheint bei der Jubiläumsausgabe des Salone angekommen zu sein und ergab - zusammen mit der eher zurückhaltenden und leisen Formensprache der gezeigten neuen Designs - ein recht gesundes Verständnis vom Wohnen der Zukunft.

Geradlinig

Klug und simpel: Bank und Tisch "Bench" von Konstantin Grcic für Plank. (Foto: Miro Zagnoli)

Trotz oder gerade wegen seiner hervorragenden Schlichtheit war es einer der großen Hingucker der Messe: Bank und Tisch "Bench", entworfen von Konstantin Grcic für das kleine Südtiroler Unternehmen mit dem passenden Namen Plank. Auf den ersten Blick ist die Formensprache hier natürlich nicht neu - dickes, astloses Fichtenholz wurde auf die simpelste Weise zu Bank und Tisch zusammengefügt. Dass die Produktionszeit für die massive Garnitur trotzdem fast drei Jahre dauerte, liegt an dem ausgeklügelten Stecksystem, mit dem sich die einzelnen Teile ganz einfach ohne Werkzeug und dauerhaft stabil fixieren und genauso schnell wieder auseinanderbauen lassen. Die praktische Verstau- und Stapelbarkeit war nämlich auch eine Vorgabe, die Grcic in Zusammenarbeit mit den Südtirolern umsetzen wollte. Ergebnis: Der eigens entwickelte Mechanismus mit drei einrastenden Zapfen ist jetzt zum Patent angemeldet. Eine kleine, präzise Fuge an der Tischkante und die helle Holzfarbe geben der Dickholz-Garnitur eine gewisse Leichtigkeit. Und die einfache Form und die Verwendung von regionalen Materialien entspricht dem post-pandemischen Bauchgefühl: Lieber nicht zu sehr in die Ferne schweifen und stattdessen lieber auf die Sachen setzen, die ganz einfach zu begreifen sind. Ein Entwurf gegen die Kompliziertheit der Zeit!

Ungewöhnlich

Großes Kino: Das Sofa "Riace" von Ronan und Erwan Bouroullec für Magis. (Foto: Hersteller)

Die Brüder und Design-Alleskönner Ronan und Erwan Bouroullec aus Paris präsentierten beim italienischen Hersteller Magis gleich mehrere neue Produkte mit ungewöhnlichem Material-Mix. Eine Serie aus Beistelltischen und Regalen etwa, mit Flächen aus glasierter Keramik, aber vor allem ein monumentales Sofa namens "Riace", das durchaus skulpturale Qualitäten mitbringt. In der Branche sagt man bei solchen raumgreifenden Entwürfen (ist nur in dieser Länge verfügbar) reflexhaft: Das ist was für den Objektbereich! Meint also Hotellobby oder repräsentative Empfangsräume - und eher nicht das heimische Wohnzimmer. Markanteste formgebende Maßnahme bei diesem Polstermöbel sind die robusten Armlehnen aus weißer Bronze, die durchaus auch in ritterlichem Kontext bestehen würden. Der Name Riace bezieht sich dann auch auf den gleichnamigen Ort in Italien, der für die Funde von zwei spektakulären Bronzefiguren bekannt ist. Hier ergibt der - in der Gegenwart eher ungewöhnliche - Werkstoff einen interessanten Kontrast zu der elegant geschwungenen Sitzfläche, die zwischen dem Bronzegestell zu schweben scheint. Eine Mixtur, die typisch für das erfolgreiche Duo ist: roh anmutende Materialien im Dialog mit zeitgemäßen Formen und Farben.

Haltbar

Poetisch: Die Leuchte "Stellar Nebula" der Bjarke Ingels Group (BIG) für Artemide. (Foto: Hersteller)

Nicht nur unter Architekten gilt die Bjarke Ingels Group (BIG) seit Jahren als Garant für spannende Großprojekte und als Vordenker für die Zukunft des Wohnens und der Stadtentwicklung. Immer häufiger kümmert sich das Architektenteam auch um kleine Details und entwirft nebenbei zum Beispiel Gartenstühle oder auch mal eine Pandabären-Figur zur Auflockerung von Vorstandsschreibtischen. Beim traditionellen italienischen Leuchtenhaus Artemide war BIG dieses Jahr gleich mit mehreren innovativen Lichtlösungen vertreten, wobei die Serie "Stellar Nebula" in eine für die smarten Dänen ungewöhnlich poetische Richtung zeigt: eine nahezu perfekte Nachbildung einer Seifenblase, realisiert mit den Möglichkeiten kunstfertiger Glasbläserei und einer speziellen PVD-Beschichtung (im Deutschen sagt man dazu salopp: physikalische Gasphasenabscheidung), die für den schillernden Effekt im Inneren der amorphen Glasblasen sorgen. Genau wie Seifenblasen im Wind hat jede der Leuchten eine ganz individuelle Form und wirkt im Raum so gewichtslos, dass man Angst bekommt, sie könnten durchs offene Fenster entfleuchen. Erhältlich sind die skandinavischen Seifenblasen als Steh-, Decken- und Pendelleuchte.

Behaglich

Perfektes Versteck: Der Hochlehner "Paradise Bird" von Luca Nichetto für Wittmann. (Foto: Miro Zagnoli)

Das österreichische Traditionsunternehmen Wittmann produziert seit 1896 Möbel und kann dabei auf eine große Vergangenheit zurückblicken, die mit Entwürfen von Josef Hoffmann und der Wiener Moderne ihren ersten Höhepunkt erlebte. Um das Haus in eine genauso spannende Zukunft zu führen, wurde vor einigen Jahren der renommierte Designer Luca Nichetto als fester Art Director engagiert, ein durchaus ungewöhnlicher Schritt für ein Familienunternehmen. Seither erweitert Nichetto das Portfolio der Polsterspezialisten aus dem niederösterreichischen Etsdorf um spannende Designernamen und eigene Entwürfe. Einer davon ist die Sitzkollektion "Paradise Bird", die Nichetto jetzt mit einem markanten, geschlossenen Rücken ergänzte. In der Version als Hochlehner sorgte das Möbel auf der Messe für beträchtliches Aufsehen: Ist das ein gemachtes Nest, eine künstliche Raumnische, ein Möbel gewordener Eskapismus oder einfach der perfekte Ort für den ungestörten Konsum von zeitgemäßen Suchtmitteln wie Instagram oder Netflix? Was auch immer man darin sieht - auf jeden Fall hat das weiche Plätzchen eine bedenkliche Schwerkraft: Man sinkt viel zu schnell hinein und kommt kaum mehr hoch.

Wandelbar

Individuell wandelbar: Das Verbindungssystem "Apio" von Nachwuchsdesigner Felix Landwehr. (Foto: Hersteller)

Der deutsche Rat für Formgebung ist ein maßgebliches Gremium für guten Wohngeschmack und ermittelt unter dem Namen "ein&zwanzig" mit einer international besetzten Jury jedes Jahr auf dem Salone den besten deutschen Designernachwuchs. Dieses Jahr wurde dabei mit Felix Landwehr ein Absolvent der Fachhochschule Potsdam für die Idee eines knotenbasierten Verbindungssystems namens "Apio" als "Best of Best" ausgezeichnet. Interessant daran ist vor allem, dass die intelligente Verknüpfung den Benutzern die Verwendung von eigenem Rundmaterial ermöglicht - zum Beispiel Stangen aus dem Baumarkt oder recycelte Materialien. Damit sind individuell wandelbare Möbel und Designs möglich, was dem Zeitgeist ebenso zuträglich ist wie der Umstand, dass alles schnell und ohne Werkzeug auf- und wieder abgebaut werden kann. Auch ökonomisch überzeugt das Apio-System: Die einzelnen Komponenten des Verbindungselements werden mit 3-D-Lasertechnologie und CNC-Drehtechnik kosteneffizient in Brandenburg hergestellt und sollen somit zu niedrigeren Preisen erhältlich sein. Der Rat befand: "Eine kostengünstige, nachhaltige und moderne Lösung, die sich sogar in Kleinstflächen variabel einsetzen lässt." Applaus!

Nachhaltig

Bunte Reste: Die "Re-Rugs" von Nanimarquina aus Barcelona. (Foto: Hersteller)

Die Teppichspezialisten Nanimarquina aus Barcelona bekamen pünktlich zu ihrem Auftritt beim Salone del Mobile das Label als CO₂-neutrales Unternehmen verliehen. Auch sonst drehte sich an dem Stand alles um Nachhaltigkeit. Die bunten Berge aus Wollresten, die sich hier türmten, sollten zum Beispiel verdeutlichen, wie viel Materialüberschuss bei der Teppichproduktion anfällt. Das muss nicht sein, befand Labelgründerin Nani Marquina, und entwickelte eine Technik, die den Resten und Wollabfällen ein zweites Leben ermöglichen sollte. Aus der Idee wurde schließlich eine ganz eigene Kollektion: Die sogenannten "Re-Rugs" werden jetzt in Handarbeit mit der Dhurrie-Technik hergestellt. Das Ergebnis sind robuste und farbenfrohe Flachgewebe, die als Alltagsteppiche eine sehr gute Figur machen und in denen die aufbereiteten Reste hälftig mit neuer neuseeländischer Wolle vermischt werden und zwar durch die Kreuzung von Kette und Schuss. Durch die unterschiedlichen Farben der Wollreste entstehen dabei jeweils einzigartige Farbmuster und eine wirkliche sehenswerte Form von Upcycling. Eine Idee, die man gerne mit Füßen tritt.

Auffällig

Glänzt: Der Stuhl "Miss Dior" von Philippe Starck für Dior. (Foto: Hersteller)

Es war das Gesprächsthema auf den Partys und in den Taxis - die spektakuläre Dior-Show im Keller des Palazzo Citterio. Allerdings wurde dort nicht Mode mit Lichtshow inszeniert, sondern ein einziges Stuhlmodell: "Miss Dior", entwickelt von Philippe Starck, dem Designgenie, dem die Millionäre vertrauen und der schon nahezu alles entworfen hat. Ein Stuhl für die High Fashion hat aber wohl noch im Portfolio des Meisters gefehlt, deswegen gibt es jetzt diese Neuauflage des historischen Medallion Chairs aus Aluminium und mit wahlweise einer, zwei oder keiner Armlehne. In einer einzigen Form aus Aluminium gegossen hat der Stuhl eine elegant dünne Architektur und sieht, gerade in den Farbvarianten Rosé oder Gold, wirklich sehr nach Dior aus. So bahnbrechend wie getan wurde ist der Stuhl aber natürlich nicht, zumal er mit vierstelligen Einstiegspreisen versehen ist, die wenig mit dem Möbel oder Starck, aber viel mit Dior zu tun haben. Die Kooperation zeigt aber auch, dass Interieur für viele Fashionhäuser dieses Jahr zur interessanten Spielwiese wurde und der Salone del Mobile über die letzten Jahre zu einem Termin, an dem man als Kreativmarke in irgendeiner Form präsent sein sollte.

Zeitlos

Handwerkskunst: Der Tisch "Kolumba" von Peter Zumthor für Time & Style. (Foto: Hersteller)

Peter Zumthor ist ein Ausnahme-Architekt, dessen Name unweigerlich mit alpiner Ästhetik und der Therme Vals verbunden ist, jenem sakralen Badehaus aus Fels in einem Graubündner Tal, das schon kurz nach der Eröffnung unter Denkmalschutz gestellt wurde. Möbelentwürfe von Zumthor außerhalb seiner Bauprojekte gab es keine - bis jetzt. Zusammen mit dem japanischen Wohnspezialisten Time & Style stellte Peter Zumthor nun überraschend eine eigene Kollektion vor, die tatsächlich die Essenz seines Schaffens in die Möbelsprache übersetzt: Klare Linien und eine zeitlose Einfachheit strahlen Möbel wie die "Valserliege" oder der kleine "Damenhocker" aus; pures Material und Handwerkskunst definieren die Kollektion, mit der man sich ein Stück Zumthor nach Hause holen kann (Budget vorausgesetzt). Besonders schön und vergleichsweise warm-poetisch sind die Kolumba-Tischchen geraten: Geschnitzt aus dem Stamm einer japanischen Zelkove weisen sie an den Seiten eine wunderbare Maserung auf, während die Tischplatte mit einer leuchtenden Farbe bemalt ist. Sehr japanisch, sehr Zumthor. Der Denkmalschutz ist informiert!

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SZ PlusMöbelmesse in Mailand
:Es werde schlicht

Zwischen goldenen Stühlen und Kuschelmuschel: Notizen vom Salone del Mobile in Mailand.

Von Max Scharnigg

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