Tradition:Das Wunder von Mailand

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Die Panettoni aus der Mailänder Pasticceria Martesana sind "locker wie ein Wölkchen". Ihr wichtigstes Geheimnis: den Teig extrem lange gehen lassen. (Foto: Martesana)

Nationalheiligtum? Mindestens. Um kein Gebäck wird in Italien mehr Aufhebens gemacht und lustvoller gestritten als um den Festtagskuchen Panettone. Zu Besuch bei Vincenzo Santoro, dessen Backwerk verehrt wird wie kein anderes.

Von Anne Goebel

Dramatische Musik, zum Crescendo arbeiten sich große Rührschaufeln durch eine zartgelbe Masse. Dann, auf dem Höhepunkt des Films: der Teigballen, mollig, aufgeplustert, fertig für den Ofen - ein Panettone im Rohzustand. Der gewölbte Weihnachtskuchen also, ohne den in Italien zwischen Advent und Dreikönigstag kulinarisch gar nichts läuft. Ehernes Gesetz: Das Gebäck gehört auf jede Festtafel, ob zu Hause oder im Restaurant. Und Italien ist wohl auch das einzige Land der Welt, in dem ein Youtube-Video über einen Hefekuchen mit großer Oper untermalt wird. Ist nämlich vollkommen ironiefrei gemeint, der kleine Film des amtierenden Konditorweltmeisters Massimo Pica.

Wer sich auf die Spuren des Weihnachtskuchens begibt, muss nach Mailand fahren. Dort wurde der Panettone erfunden, in der norditalienischen Metropole wird seine Ankunft jede Saison wie eine besonders gelungene Überraschung des Christkinds zelebriert. Legenden zur Entstehung gibt es reichlich, Quellen belegen für die Lombardei im späten 16. Jahrhundert die Zubereitung von süßlichen großen Broten - "panoni" oder eben "panettoni" -, die gemeinschaftlich verspeist wurden. Schwer zu sagen, was die Menschen vor 400 Jahren als Delikatesse empfanden, und ob uns das heute noch schmecken würde. Tatsache ist: Man reist auch 2021 nicht unbedingt mit der besten Meinung ins Panettoneland. Längst gehört das Rosinengebäck in den bunten Kartons auch bei uns zum Adventssortiment. Insgeheim bleibt aber die Frage: Was finden die Italiener eigentlich an dem trockenen Kuchen mit Schrumpelhaut?

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Antwort: Natürlich ist er in Mailand nicht trocken, und die ideale Adresse, um das zu erkunden, ist die Pasticceria Martesana. Die Mailänder sind stolz auf ihre Konditoreien. Um Obsttörtchen zu verspeisen oder ein Stück Sacher, geht man nicht irgendwohin - sondern in eines der historischen Cafés. Das Cova an der Luxusmeile Montenapoleone, seit Generationen der Platzhirsch mit gediegenem Interieur, ist eine Erinnerung an die Habsburger-Herrschaft, als die Stadt ein Stück Wiener Kaffeehauskultur erbte. Genauso edel: Marchesi 1824, hier stehen Touristen schon morgens in der Kälte an. Die Dezemberdekoration im Schaufenster? Panettone natürlich. Auch der filmbegabte Patisserie-Weltmeister Massimo Pica käme als Adresse infrage - aber zum besten Panettone-Bäcker der Stadt - ein wichtiger Titel! - hat Mailand Vincenzo Santoro gekürt.

Vincenzo Santoro wurde in diesem Jahr zum besten Panettone-Bäcker Mailands gekürt. Besonders zur Weihnachtszeit ein wichtiger Titel. (Foto: Martesana)

Santoros Konditorei "Martesana" liegt etwas abseits, im Maggiolina-Viertel mit Jugendstilvillen und Parks. "Erkennen Sie gleich", sagt eine Frau in Hauspantoffeln, die ihren Hund ausführt, "da, wo die ganzen Autos sind." An einem sonnigen Samstagmorgen drängen sich an den Tischchen draußen und im lichten Innenraum die gutbürgerlichen Mailänder, Milano bene. Familien, alte Damen im großen Pelz, Gruppen junger Leute, die teure Moncler-Daunenjacken tragen und im Geländewagen vorfahren. Am Tresen klirren die Kaffeetassen, unter Glas reihen sich Schokotürmchen an Waldbeerschnitten. Panettone wird nach klassischer Rezeptur serviert oder in einer der Varianten, ob mit Pistazien oder Nougatglasur. "Mailand gibt gern Geld aus", sagt Vincenzo Santoro. "Aber du musst liefern. Sonst siehst du die Leute nie wieder."

Je kürzer die Haltbarkeit, desto fluffiger das Gebäck

Santoro ist ein schlanker 69-Jähriger, zur weißen Arbeitsjacke und der steifen Konditorenmütze trägt er schwarze Jeans und handgenähte Schuhe. Seit morgens um vier war er in der Backstube, jetzt ist er auf dem Weg zum prestigeträchtigen Wettbewerb "Artisti del Panettone", als Vorjahressieger hält er den Vorsitz des landesweiten Turniers. Ein Besuch in der Martesana-Werkstatt? Bedauerlicherweise unmöglich während der Weihnachtsproduktion, die schon im Oktober beginnt, Tausende Panettoni werden pro Saison im "laboratorio" handgefertigt, mit aufgestocktem Personal. Es gehe dort jetzt um höchste Konzentration, erklärt Santoro bei Espresso im Nebenzimmer. Vielleicht lässt sich der Meisterkonditor auch bloß ungern in die Karten schauen. Doch was einen echten Mailänder Panettone unterscheidet von der Exportware nach Deutschland, aber sicher, das lasse sich sofort demonstrieren. Santoro trinkt aus, schält ein Exemplar aus Karton, Folie und Papiermanschette, teilt den Laib mit einem scharfen Messer und öffnet die zwei Hälften des Gebäcks mit beiden Händen wie eine kostbare Frucht. "Non è una bellezza?" Ist er nicht schön?

Großporig und etwas feucht im Inneren, von kandierten Früchten und Sultaninen gleichmäßig, aber nicht zu dicht durchsetzt, die braune Kruste weich, aber nicht zu elastisch: So sieht ein "panettone artigianale" aus, handwerklich hergestellt und mit dem schwach säuerlichen Geruch von frischem Hefeteig. Im Mund vermischt sich die Säure mit dem süßen Aroma von Orangeat und Rosinen - bei der flaumigen Textur einer frisch geschnittenen Scheibe könnte man auf die leider verkehrte Idee kommen, es handle sich um einen federleichten Happen. Aber: Im Panettone steckt viel Butter, "burro selezionato", wie Santoro präzisiert. Auch verwende er nur zwölffach gemahlenes Mehl, beste Trockenfrüchte und Honig, den er bei einer kleinen Imkerei entdeckte. Offenbar lohnt sich der Aufwand. Der Gourmetführer Gambero Rosso hat die Pasticceria Martesana, 1966 gegründet und wenig später von Santoro übernommen, gerade mit der höchsten Anerkennung "Tre torte" bedacht.

Guter Panettone ist außen weich und innen großporig und feucht. Außerdem sollte er leicht säuerlich riechen. (Foto: Martesana)

Das ist auch eine Auszeichnung für das weihnachtliche Paradestück. Traditionell wird der Kuchen als Dessert nach dem Festmenü verspeist, am liebsten mit einem guten Glas Spumante. Das auf die Verpackung gedruckte Datum ist ein erstes Qualitätszeichen, noch bevor man den Inhalt aus der Box nimmt - bei den guten Adressen ist sie, hübsch wie eine Hutschachtel, maßgefertigt. Faustregel: Je geringer die Haltbarkeit, desto fluffiger das Gebäck. Die Unverwüstlichkeit gängiger Industrieware, angeblich genießbar bis in den Hochsommer, verweist auf verdächtige Fremdstoffe, allein deren Bezeichnungen nimmt ein pasticcere mit Berufsehre nur widerstrebend in den Mund. "Monocliceridi" etwa, Monoglyceride als Emulgatoren, oder "Antimuffa" zur Regulierung der Feuchtigkeit.

Die Mailänder Handelskammer legte 2003 die Zutaten für "panettone artigianale" genau fest, neben Mehl, Zucker, Eiern und Butter ist das Backtriebmittel entscheidend: keine gewöhnliche Bierhefe, sondern "lievito madre", ein besonders milder Sauerteig. Bäcker, die auf sich halten, arbeiten nur mit selbst gezüchteten Kulturen aus Milchsäurebakterien, über Jahre gehegt. Vielleicht hat die Hingabe an den Panettone auch damit zu tun: die Vergrößerung des Hefeteigs wie von Zauberhand, das hat jedes Mal etwas Magisches an sich. "Grandi lievitati" nennt man respektvoll die Vorzeigeprodukte der Königsdisziplin, den Weihnachtskuchen und die zuckerbestreute "Colomba" zu Ostern. Ein gelungener Panettone sei innen "locker wie ein Wölkchen", sagt Maestro Vincenzo. Das wichtigste Geheimnis: Die penibel eingehaltene Ruhezeit. In seiner Backstube beträgt die Teigführung 48 Stunden, Knet- und Gärungsphasen bei exakt 28 Grad wechseln sich ab. Nach dem Backen hängen die Laibe zum Auskühlen kopfüber in Gestellen. So viel Zeit hat ihren Preis. Der Ein-Kilo-Panettone von Martesana kostet 40 Euro, bei Cova und Marchesi ab 38 Euro.

Überraschende Erfolge feierte dieses Jahr der Panettone von Ikea

Klar, nur einen Bruchteil davon gibt man im Supermarkt aus für schnell durchgebackene Massenware von Firmen wie Motta, Piacelli oder Bauli, die auch in Deutschland zu haben ist. Je nach Qualität und Marke kann das im ungünstigsten Fall bedeuten: pappmachee-artige Konsistenz, das kandierte Obst ohne Aroma, dazu zähflüssige Schokotunnel. Zwar deckt sich selbst in Italien das Gros der Kunden bisher mit den günstigen Produkten ein. Aber die Beliebtheit der "artigianali" nimmt stetig zu. Anscheinend haben die Italiener die "traurigen, trockenen Riesenpilze" satt, wie es in dem vielgelesenen Foodblog "Dissapore" über Panettoni aus dem Discounter in billiger Knisterfolie heißt. Mehr Gnade fand bei den Verkostern der Panettone von Ikea, wenn auch die starke Zimtnote auffiel.

Dass die hochwertigen Varianten aus Handwerksbetrieben auch international zunehmend gefragt sind, bestätigt eine neue Studie des Marktforschungsinstituts Nielsen. "The world has fallen in love with Panettone", heißt es darin. Vor allem in China oder Hongkong steige die Nachfrage, dem Emir von Katar habe es eine Schokorezeptur angetan. Zutaten wie Ingwer, irische Rum-Creme oder Pistazieneis lösen derweil Debatten aus im Panettone-Heimatland, ob solche Extravaganzen noch den Namen des Kuchens tragen dürfen. Auch herzhafte Versionen mit Provolone oder Paprika empfinden Traditionalisten als Sakrileg.

Italien streitet viel darum, welche Gebäckvariante sich noch Panettone nennen darf. Nougatglasur ist aber eindeutig erlaubt. (Foto: Martesana)

Vincenzo Santoro lächelt milde über die erregten Debatten. Er hat schon vor Jahrzehnten mit glasierten Maronen experimentiert, und seinen im schönsten Dialekt betitelten "Panetùn de l'Enzo" (dunkler Schokoüberzug, Aprikosenkonfekt) lieben die Mailänder besonders. Ist schließlich eine Sacher-Hommage, also eine Verbeugung vor der lokalen Historie. Für Santoro geht es auch um seine persönliche Geschichte. Er kam Anfang der Sechzigerjahre als Junge aus dem tiefsten Süden in die Lombardei. "Ich kam an in der riesigen Stadt und wusste, hier will ich etwas erreichen. Als Konditor, das war immer mein Traumberuf", sagt Santoro. "Also habe ich mir das vorgenommen, wofür Mailand berühmt ist. Den Panetùn."

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