Modernes Leben:Schwerhörig - oder Musikfan?

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Knopf im Ohr: Earbuds sind für viele Zwecke einsetzbar. (Foto: Bose)

Kopfhörer werden immer häufiger direkt ins Ohr gesteckt - und ähneln damit Hörgeräten. Mittlerweile setzen wiederum deren Hersteller bewusst auf das Design moderner Earbuds.

Von Jan Kedves

Der Unterschied zwischen Menschen, die problemlos hören, aber etwas anderes hören wollen, und Menschen, deren Gehör eingeschränkt ist, ist in der Regel deutlich: Die einen tragen Kopfhörer, die anderen Hörgeräte. Die Trennung zeigt sich optisch, Kopfhörer haben diesen Bügel und Schalen für die Ohren. So sahen Kopfhörer jedenfalls lange Zeit aus. Da wusste man gleich: Diese Person hört vermutlich Musik und will in Ruhe gelassen werden. Hörgeräte hingegen sind klein und in die Ohrmuschel oder hinter das Ohr platziert, sie sind hautfarben oder aus transparenten Materialien hergestellt. Sie sollen unsichtbar sein. Und gerade deswegen fallen sie manchmal doch ein wenig auf.

Die Unterscheidung löst sich jetzt aber hier und da auf. Das liegt vor allem daran, dass sich das Kopfhörerdesign so verändert. Man könnte sagen: Dass es in den vergangenen Jahren den Trend zum extrafetten Kopfhörer mit superwulstigem Kopfbügel gab (man denke an die Modelle von Beats), war eher ein letztes Aufbäumen des Kopfhörers in seiner klassischen Form. Längst geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung, zum "Earbud", übersetzt: Ohrknospe oder Ohrknopf.

Diese Mini-Kopfhörer, die man sich direkt in den Gehörgang setzt, existieren schon länger, aber dank der Bluetooth-Technologie seit kurzem auch komplett kabel- und bügellos. Sie eignen sich neben dem Musikhören für alles Mögliche - je nachdem, mit welcher App man sie steuert. Sie können Telefonhörer sein, Navigationshilfe, Sekretariat, sogar Umgebungsfilter. Ihre Funktion ändert sich situativ, ohne dass das von außen erkennbar wäre. Integrierte Mikrofone haben die Ohr-Knubbel auch, das heißt: Wenn einen beispielsweise Babygeschrei stört, dann kann man bei manchen Modellen sogar einen speziellen Anti-Baby-Filter aktivieren und diese Geräusche gezielt ausblenden.

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Selektive Wahrnehmung dank Earbuds. Die Frage ist nun, ob diese Earbuds bereits potenzielle Hörgeräte sind: Der Hi-Fi-Konzern Bose, bekannt für seine Lautsprecher und Kopfhörer, hat in den USA vor eineinhalb Jahren bei der FDA, der Lebens- und Arzneimittel-Behörde, die erste Hürde zur Zulassung eines angekündigten neuen Earbud-Hörgeräts genommen. Es soll over the counter verkauft werden, also: ohne Rezept. Da schrillen hierzulande die Alarmglocken, und das aus gutem Grund: Dass man sich in Zukunft ohne Krankenkasse und ohne Beratung durch eine Hörgeräteakustikerin ein Hörgerät kaufen und dieses ganz eigenständig anpassen soll, wäre sicher keine zu begrüßende Entwicklung. Sie könnte eher noch ein Risiko für das geschädigte Gehör darstellen.

Hörgeräte, die wie Earbuds aussehen

In den USA ist die Situation allerdings eine andere, denn dort gibt es aufgrund des dürftigen Gesundheitssystems einen Hörgerätenotstand. Daher wurde es als Erfolg gefeiert, als Präsident Trump im Jahr 2017 den "Over-the-counter Hearing Aid Act" unterzeichnete, den die demokratische Senatorin Elizabeth Warren initiiert hatte. Durch die Verordnung soll es Amerikanern mit leichtem bis mittelschwerem Hörverlust erleichtert werden, ohne Arzt und ohne Krankenkasse an bezahlbare Hörhilfen zu kommen. Insgesamt wird die Zahl der Bedürftigen in den Staaten auf mindestens 35 Millionen geschätzt. Ein Riesenmarkt also. Ihn wollen die Hi-Fi-Firmen erobern, mit neuen rezeptfreien Earbuds inklusive App-gesteuerter, angeblich klinisch geprüfter Hörhilfs-Funktion.

Was auch immer man medizinisch von solchen Geräten halten mag: Interessant ist ihr Design. Zum Beispiel sind die "IQbuds Boost" von der Firma Nuheara (zu kaufen für 280 Euro) nicht transparent oder hautfarben, sondern schwarz. Sie unterscheiden sich optisch kaum von Earbuds, die vor allem zum Musikhören gedacht sind, oder vom Bluetooth-Headset, das der DHL-Kurier im Ohr trägt, wenn er sich vom Navi durch die Stadt dirigieren lässt. Sprich: Die Ästhetik dieser Geräte passt ganz ins Bild eines technisch optimierten Menschen, der im dritten Jahrtausend fast schon zum Cyborg geworden ist, oder jedenfalls zur digitalen Schnittstelle, an die sich alle möglichen Hilfsmittel, "Anthropofakte" genannt, andocken lassen.

Muss in so einem technisierten Menschenbild eine Behinderung noch ein Stigma sein? Nicht zwangsläufig. Sie kann auch als technologische Herausforderung begriffen und offensiv designt werden. Natürlich bleibt es auch weiterhin verständlich, wenn sich hörbehinderte Menschen Geräte wünschen, die möglichst unsichtbar bleiben, wie es bislang das Ziel der klassischen Hörgeräte-Industrie war.

Telefoniert er, hört er Musik - oder will er seine Ruhe?

Allerdings funktioniert fast kein Hörgerät perfekt, und viele der kommunikativ herausfordernden, anstrengenden Situationen, denen sich hörbehinderte Menschen alltäglich ausgesetzt sehen, entstehen wegen der Unsichtbarkeit ihrer Behinderung. Die Mitmenschen reagieren auf eine unsichtbare Einschränkung mit umso größerem Unverständnis. Könnte es da nicht von Vorteil sein, einen Knopf im Ohr zu tragen, sichtbar für alle?

Das wäre ein Experiment: Je normaler es im Alltag wird, Menschen mit Earbuds zu begegnen, desto selbstverständlicher würde es, dass man zur Anbahnung eines Gesprächs erst abcheckt, was bei der jeweiligen Person gerade Sache ist. Telefoniert sie, arbeitet sie? Will sie sich akustisch ausklinken? Oder sollte man mit ihr etwas lauter sprechen oder deutlicher? Die Präsenz von Earbuds könnte, gerade weil ihr Anblick vieldeutig ist, zu mehr Verständnis und Klarheit führen.

© SZ vom 07.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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