Wohnen: Neue Gemütlichkeit:Wie das wuchert

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Mut zum Überladenen: Flora im Badezimmer. (Foto: mauritius images / Alamy Stock)

Als Wohntrend gehört der Maximalismus mit seiner Farb- und Formenpracht zu den großen Gewinnern der Pandemie. Sogar die Zimmerpflanze erlebt ein Comeback. Schön? Manchmal.

Von Gerhard Matzig

Die Pandemie kennt viele Verlierer. Manche davon betrauert man. Das Kino zum Beispiel, das Restaurant, den Buchladen, ach, die ganze Innenstadt, den Nahverkehr, das eigene Aktiendepot (Coinbase hat einen doch nicht reich gemacht, so muss man weiter hier schreiben). Aber es gibt auch Gewinner, denen zu gratulieren ist. Das gilt nicht zuletzt dem "Köstlichen Fensterblatt": Monstera deliciosa.

Die Pflanze gehört zur Ordnung der Froschlöffelartigen und erinnert sehschwache Laien wegen der ledrigen Blätter - Botaniker mögen bitte den nächsten Halbsatz milde lächelnd ignorieren - an einen Gummibaum der Fünfzigerjahre. Das ist verblüffend im Jahr 2022. Beziehungsweise ist es auch einfach ein weiteres Indiz für den Siegeszug des "Maximalismus". Der nicht zufällig in den pandemischen Zeiten der neuen Innerlichkeit zur Großform aufläuft. Mehr Farbe, mehr Formfrohsinn, mehr Ornament, mehr Dekor, mehr Draperie und mehr Nippes - gab es seit dem Historismus nicht mehr.

Manchmal ist das erfrischend: Das traute Heim ist wieder da

Im Maximalismus, der in Wohn-Blogs und Design-Gazetten immer mehr Präsenz entwickelt, der aber auch in Boris Johnsons neuer und naturgemäß skandalumwitterter Dienstwohnung in der Downing Street in Form ornamental delirierender Seidentapetenmuster zu bewundern ist, erheben sich zuvor verblasste Farben, lange ignorierte Schmuckformen, vereinsamte Stoffe und eben auch die jahrzehntelang vernachlässigten Zimmerpflanzen zu einem mittlerweile unübersehbaren Akt der Gegenwehr. Bald wird man wieder Kanarienvögel in raumgreifenden Volieren bewundern dürfen in den Wohnungen. Und die Sonnenblumen, die Vincent van Gogh für die Stümper stehen gelassen hat, sind ebenfalls zum Comeback entschlossen. Das traute Heim ist wieder da. Wie erfrischend. Mitunter aber auch: welch Elend.

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Es geht der Askese an den Kragen. Gemeint ist das schon von Tom Wolfe 1981 in seiner Schrift "From Bauhaus to Our House" verhöhnte Bauhauserbe, dessen Minimalismus-Dogmatik, also das "Reine & Feine & Leere & Hehre", nur in einem "sinnlichen Entzugskoma" enden könne. 1981 war das Büchlein als lustige Modernekritik einer Minderheit zuzurechnen. Daraus ist eine Mehrheit geworden. Der Gang durch die Einrichtungsmessehallen belegt das schon längst. Dem Minimalismus ist ein Nachruf zu schreiben. Er ist das logische Opfer des Maximalismus und wird schlichtweg überwuchert. Vom Köstlichen Fensterblatt aus der Ordnung der Froschlöffelartigen.

Dieser Tage wurde in einem Radiofeature auf Bayern 2 der "Dschungel" einer 29-Jährigen aus Neuburg an der Donau in einem Beitrag zum Zimmerpflanzentrend gewürdigt. Die junge Frau wohnt mit mehr als 200 Zimmerpflanzen zusammen. Das Köstliche Fensterblatt erfährt als Ableger von der Oma eine besondere Wertschätzung. Das Ganze wird flankiert von einem Gartenbau-Experten im Interview, der Zimmerpflanzen attestiert, "extrem im Trend" zu sein. In der Pandemie seien Zimmerpflanzen, so die Moderatorin der Sendung, "nicht mehr altbacken und bieder", wie früher noch der Gummibaum als Ikone deutscher Spießigkeit, "sondern quasi ein Muss". Der Maximalismus ist im Radio angekommen.

Spätestens seit den Achtzigerjahren hatte der Minimalismus (der begrifflich aus der Kunst und den Sechzigern stammt: Minimal-Art) in Architektur und Wohnwirtschaft Furore gemacht. Der in der gesamten Moderne-Geschichte anzutreffende, sich aber erst in der Nachkriegsmoderne allgemein durchsetzende Verzicht auf Ornament und Dekor führte insbesondere im Interieur zu immer asketischeren, reduzierten und schließlich nahezu leeren Wohnräumen. Es gab Wohn-Influencer, die ihre Bücher in den Regalen umdrehten, also mit den Seiten nach vorn stellten, um allzu viel Buntheit zu vermeiden. Jetzt rächen sich Zierkissen, Blumentopf und Blümchentapete dafür.

Less is more, weniger ist mehr: Das Zitat (dessen Ursprung unklar ist, oft wird es Ludwig Mies van der Rohe zugeschrieben) war einst vor allem elitären Schichten vertraut. Ein minimalistischer Wohnstil wurde aber schon bald gesellschaftsübergreifend zum Mittel der Distinktion. Doch seit einiger Zeit nehmen sich die Einrichtungshäuser immer öfter aus wie die zur Schmuckwut gewordene Venturi-Sentenz. Robert Venturi meinte: "less is a bore". Weniger ist nicht mehr, sondern langweilig.

Man konnte zuletzt diesem Gedanken förmlich dabei zusehen, wie er aus der Postmoderne-Theorie langsam in die Ikea-Filialen durchsickerte. Seither geht es in den Wohnungen turbulent zu, der Aufräum-Königin Marie Kondō und der Tiny-House-Bewegung zum Trotz. Wenn sich dieser Trend weiter durchsetzt, wird es kaum mehr einen Ort der Leere auf der Welt geben. Erst dann wird man Ursula von der Leyens Idee vom "Bauhaus 2.0" nicht nur als Initiative für mehr Umweltgerechtigkeit am Bau begreifen. Sondern auch als letzte Rettung vor dem Gemütlichkeitskoma.

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