Streetart:Der Lückenfüller

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Mut zur Lücke: Der Künstler Ememem flickt Löcher im Bürgersteig mit wunderschönen Keramik-Mosaiken. (Foto: Ememem)

Der Künstler Ememem verziert Löcher auf Gehwegen, in Wänden und an Gullydeckeln mit bunten Keramiksteinen, bleibt dabei aber anonym. Über das große Glück einer kleinen Kunstform.

Von Julia Rothhaas

Von den Schaufenstern und prächtigen Stadthäusern am Boulevard Saint-Germain darf man sich nicht ablenken lassen, vielmehr lohnt sich der Blick auf den Boden. Nur dann kann man das Mosaik im Asphalt unweit des Café de Flore auch sehen, unter dem sich bis vor einem Jahr noch das Regenwasser und weggeworfene Kippen sammelten. Heute leuchtet die Fläche, die ein bisschen aussieht wie der Umriss einer Möwe am Himmel, gelb, grün, rot und blau. Das Loch im Gehweg, nicht größer als zwei Fußabdrücke, ist bunt geworden; kleine Keramikquadrate zieren den sonst grauen Untergrund im winterlichen Paris. Ein Stückchen gute Laune, gänzlich unerwartet, das einem da vor die Füße geworfen wird.

Die bunten Keramikbildchen, die es auch jenseits des Boulevard Saint-Germain in ganz Paris zu entdecken gibt, machen die Stadt zur Galerie. Dabei bestechen die Mosaike durch ihre verspielte Zufälligkeit, die sich lediglich der Fläche des jeweiligen Lochs im Stadtbild anpassen, ohne eigens Raum für sich zu beanspruchen. Ganz anders und deutlich subtiler also als manch aufwendig geplante, häufig unbeachtete und bisweilen auch überteuerte Installation im öffentlichen Raum, an denen viele vorbeirauschen. Das Verschönern der aufgeplatzten Stellen an Boden, an Wänden und selbst auf Gullydeckeln erinnert dabei an Kintsugi, die japanische Kunstform, bei der jeder Riss in Schalen oder Vasen bewusst mit Gold- und Silberlack sichtbar gemacht wird - mit dem Anspruch, auch als Flickwerk seinem Besitzer Freude zu bereiten.

Erinnert ein bisschen an eine Möwe am Himmel: ein Mosaik am Pariser Boulevard Saint-Germain. (Foto: Julia Rothhaas)

Die kleinen Schaustücke im Bürgersteig seien ein Gedicht, das jeder lesen könne, findet der Künstler Ememem, dessen Arbeiten auch in Lyon und Amiens, in Barcelona und im norwegischen Stavanger, in Aberdeen in Schottland und sogar in Pointe-à-Pitre in Guadeloupe in der Karibik zu finden sind. Die Identität des Künstlers soll geheim bleiben, nichts Neues im Bereich der Streetart - hier ziehen es die meisten vor, anonym zu bleiben. Deswegen beantwortet Ememem die Fragen auch nur schriftlich. Wie man ihn sich vorstellt, dürfe man also gern selbst entscheiden, schlägt er vor. Einmal sei er bereits als ehemaliger Obdachloser beschrieben worden, dann wieder als junge Frau aus der Schweiz. "Angesichts all dieser Leben, die man für mich imaginiert, kann ich wohl kein junger Mensch mehr sein", schreibt Ememem und setzt ein zwinkerndes Emoji ans Ende seines Satzes. So viel sei immerhin verraten: Hände und Füße auf den Fotos, mit denen er seine Mosaike auf Instagram dokumentiert, gehören eindeutig zu einem Er.

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Die meisten Passanten wollen ihn umarmen

Der "Pflaster-Chirurg", wie er sich gerne nennen lässt, vermachte erstmals 2011 dem Stadtbild von Lyon ein Mosaik. Damals konnte er bis drei zählen, bis die Polizei neben ihm stand. Ein Mann, der nachts bunte Steinchen in aufwendigen Mustern in den Bürgersteig setzt - da darf die Streife schon mal nachhaken. "Aber ich mache nichts Illegales, Löcher im Boden stopfen ist ja nicht verboten", findet Ememem. Inzwischen winken ihm die Polizisten aus dem vorbeifahrenden Streifenwagen zu, zumindest in Lyon kennt man ihn inzwischen. "Ich bin jetzt kein Anarchist mehr." Nur von Passanten, die spätnachts noch unterwegs sind, wird er regelmäßig angesprochen; die meisten wollen ihn umarmen, wenn er ihnen erzählt, was er da mache, so Ememem.

Vorher: Nur ein Loch im Boden, das niemanden interessiert ... (Foto: Ememem)

Streetart gilt als nicht-kommerzielle, mal mehr und mal weniger legale Form von Kunst im öffentlichen Raum. Einige Künstler setzen dabei auf die immergleiche Darstellung ihrer Motive, in Gestalt von Wandschmuck, Postern, Skulpturen oder mit Schablonen aufgetragenen Bilder. Zu den weltweit bekanntesten Künstlern gehört Bansky mit seinen Graffiti wie dem "Girl with Balloon", einem Mädchen, das einen Luftballon in Herzform in der Hand hält. 2018 ließ er eines seiner Bilder öffentlichkeitswirksam bei Sotheby's in London versteigern und dann vor den Augen der Weltöffentlichkeit schreddern, als Protestaktion gegen den hemmungslosen Kunst-Kapitalismus. Um sich besonders innovativ zu geben, setzen zum Entsetzen der Künstler allerdings auch immer mehr Unternehmen auf Streetart, um für sich mit einer Art Guerilla-Marketing zu werben. Das hat mit der Intention von Straßenmeistern wie Ememem so gar nichts zu tun. Sein Anspruch sei es lediglich, mit seiner Kunst, an der er nichts verdient, "die Straße zu heilen".

Nachher: Ein Stückchen gute Laune, das zufällig entdeckt werden mag. (Foto: Ememem)

Seine Form der Darstellung nennt er "flacking", ein Wortspiel mit dem französischen Wort "flaque" für Pfütze, die er in ein buntes Mosaik verwandelt. Seine "Leinwände" findet er während langer Spaziergänge durch die Stadt: "Die Löcher im Boden rufen mich. Wenn ein Platz schön ist, aber kaputt, dann ist er genau der richtige", schreibt er. Wie lange die Transformation der Pfütze dauert, hängt von der Kuhle selbst ab. Mal ist er in zwei Stunden fertig, mal fährt er über Wochenhinweg immer wieder dorthin, um zu überlegen und zu planen. Wie er das Ganze letztendlich vor Ort umsetzt und ob er dabei Hilfe hat, soll Ememems Geheimnis bleiben. Fest steht nur, dass er immer nachts an seinen Mosaiken arbeitet. Nicht nur, weil er dann weitgehend ungestört die Steinchen in den noch weichen Mörtel setzen kann. Sondern auch für genau die Portion Magie, die sich nur zeigen kann, wenn es morgens plötzlich rot-blau-grün auf dem Weg zur Arbeit schimmert, wo vorher noch ein hässliches Loch im Asphalt klaffte.

Ein angeknabbertes Capri-Eis? In Chicago verschönert Jim Bachor damit das Straßenbild. (Foto: © Jim Bachor)

Unerwartete Kunst am Boden - damit überraschen auch anderorts Künstler die Passanten. In Chicago setzt etwa Jim Bachor kleine Murals ins Stadtbild. Statt bunter Muster finden sich dort Steaks und ein rennendes Huhn, Narzissen und Klopapier im Gehweg. In einer seiner Serien sind verschiedene Sorten Eis am Stiel zu bewundern.

Lieblingsmieze auf dem Nachhauseweg: Im belgischen Schaarbeek dürfen die Einwohner eigene Murals legen lassen. (Foto: Instagram/pavement_project)

In Schaarbeek bei Brüssel hingegen schmücken vor allem Haustiere die Straßen. Nachdem die Künstlerin Ingrid Schreyer anfing, einige ihrer Werke als Mosaike in der Stadt zu verlegen, darf heute jeder sein Lieblingsmotiv anbringen lassen. Die Kosten dafür übernimmt die Bezirksverwaltung. Die Bewohner stoßen auf ihren Spaziergängen also auf Füchse und Blumen, den kleinen Prinzen, Gitarren und Karotten. Und jede Menge Schnurri, Bello und Strolchi.

Ob Lego-Stein oder umstrickter Baum: Etwas Bunt hat noch keiner Stadt geschadet

Auch mit anderen Techniken färben Künstler längst die Städte bunt: Jan Vormann füllt zum Beispiel abgebrochene Stellen an Fassaden und in Wänden mit Lego-Steinen auf, zu sehen sind seine Werke in Berlin, New York und Taipeh. Ein großer Haufen Plastiksteine kam sogar an der gotischen Fassade des Justizpalasts von Rouen zum Einsatz, der Hauptstadt der Normandie. Dort, wo die Bombensplitter des Zweiten Weltkriegs unzählige Löcher in der Fassade hinterließen, die bis heute als Mahnmal der Zeit trotzen, durfte Vormann Ende 2020 gemeinsam mit den Einwohnern der Stadt vier Tage lang Lücken flicken - ohne Klebstoff, versteht sich, damit sie aus dem Monument wieder problemlos entfernt werden konnten.

Der Künstler Jan Vormann hat Legosteine an der von Bombensplittern zerstörten Fassade des Justizpalasts von Rouen angebracht. (Foto: Instagram/janvormann)

Ein kleines Stück Poesie auf dem Nachhauseweg: Seit Anfang der 2000er-Jahre strickten sich vor allem Heim-Künstler die Finger wund, um mit den bunten Wollflächen Baumstämme, Fahrräder, Statuen und Treppengeländer zu umwickeln. Zur diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ließen sich hingegen winzig kleine Szenen in Backsteinmauern aufspüren wie ein Minipark mit Sitzbank und ein Gesicht aus Draht, das sich wie eine Skizze um einen Laternenpfahl wickelte. Eine spontane Ausstellung an Wänden und Litfaßsäulen lässt sich etwa in München finden. Dort pflastert der Fotograf Andreas Bohnenstengel seine Schwarz-Weiß-Fotografien quer durch sämtliche Straßen, die das Treiben auf dem ehemaligen Pferdemarkt zeigen. Geschadet haben solche Eigeninitiativen noch keiner Stadt, vielmehr wünscht man sich deutlich mehr solcher Spontangalerien.

Straßenkunst soll für alle da sein, deshalb will Ememem in diesem Jahr ein "Institut für Flacking" eröffnen. Dort möchte er seine Arbeitsweise in Workshops vermitteln und anderen zeigen, wie man mit relativ einfachen Mitteln mehr Kreativität und Farbigkeit in urbane Räume bringt. Er selbst möchte seine "Gedichte" in diesem Jahr vor allem an Orte bringen, die gut etwas Poesie und Leichtigkeit gebrauchen können. Ganz oben auf seiner Liste steht Beirut. Für die vielen Risse und Löcher in der durch die große Explosion vor anderthalb Jahren zerstörten Stadt wird er reichlich Keramikplättchen brauchen.

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