WM 2010: Presseschau:"Episches Duell mit dem Erzfeind"

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In der Presseschau "indirekter freistoss" geht es heute um Deutschlands Zittersieg gegen Ghana, Englands bittere Erinnerungen an die WM 1990 und skurrile südafrikanische Spezialitäten.

Roland Zorn ( FAZ.net) zitterte mit der deutschen Elf im "Gruppen-Endspiel" gegen Ghana. "Auch wenn die Leistung des Aufgebots von Bundestrainer Joachim Löw nicht immer höheren bis höchsten Ansprüchen genügte, so erlaubten sich die am Ende überglücklichen Sieger doch keine entscheidende Nachlässigkeit." Dennoch habe man der jungen Mannschaft die Nervosität angemerkt. "Doch von Spielkontrolle konnte vorerst keine Rede sein. Ein Glück für die deutsche Mannschaft, dass der Zweite der Afrika-Meisterschaft nicht eben als eine Mannschaft gilt, die ihre Gelegenheiten professionell zu nutzen pflegt."

Englands Wayne Rooney. (Foto: ap)

José Sámano ( El País) sieht bei diesem Turnier eine veränderte deutsche Mannschaft: "Es bewegt sich definitiv etwas in Deutschland, das nur Spieler aus der Bundesliga mit zur WM nahm und dessen Öffnung in der Einwanderungspolitik die Nationalelf in einen Schmelztiegel verwandelte. Vergangene Nacht war die Maskerade offensichtlich: Nur Friedrich und Mertesacker, die Innenverteidiger, bildeten noch das alte germanische Gerüst. Der Rest hatte nichts zu tun mit dem traditionellen deutschen Fußball der Pferdelungen. Unter Vermeidung des einstigen Königsweges, jenes Spiels Mann gegen Mann, in dem die Deutschen stets lediglich versuchten, ihre körperliche Überlegenheit auszuspielen, offenbart Deutschland heute einen bedächtigeren Fußball, mit geringerer Stromstärke.

Andres Rüttenauer ( taz) beeindruckten die Ghanaer: "Extrem beweglich in der Abwehr und hochkonzentriert warteten sie auf die Fehler ihrer Gegner. Und die kamen. Es waren ihrer nicht wenige. Die Deutschen kamen schlecht zurecht mit dem Druck, unter den irrsinnig fleißige Ghanaer die jeweils Ballführenden setzten. Hätten die Deutschen nicht diesen zum Fleißspieler mutierten Edeltechniker Bastian Schweinsteiger, der vor der Abwehr geschuftet hat, dass man beinahe beim Zusehen mitgeschwitzt hat, es wäre vielleicht nichts geworden mit dem Einzug ins Achtelfinale." Die Sorge ist groß: "Einen Spielfluss gab es nicht. Das Team, es hat nicht funktioniert. Die Mannschaft ist abhängig von zwei Spielern. Es ist gut gegangen, weil Bastian Schweinsteiger dauernd gut war, und weil Mesut Özil einen genialen Moment hatte."

Rückkehr zum Kick-and-Rush

Kevin McCarra ( The Guardian) begrüßt die Rückkehr der Engländer zum oft verspotteten Kick-and-Rush vergangener Tage. "England gewann sein erstes Spiel bei dieser WM mit Fußball wie an einem Wintertag in der Premier League. Dieser Ansatz wird nie zu richtiger Größe führen, aber er war nötig, um Ordnung in die Elf von Fabio Capello zu bringen." Aufgrund der mangelnden Chancenverwertung mussten die Engländer in der Schlussphase gegen die Slowenen zittern. "Trotzdem sahen wir einen mutigen und gut organisierten Auftritt Englands. Der einzige Kritikpunkt ist, dass die Überlegenheit nicht in Zählbares umgemünzt wurde."

Sam Wallace ( The Independent) bemüht nach dem Achtelfinaleinzug der Engländer die Vergangenheit. "Ein Großteil der Mannschaft wurde vor etwa 30 Jahren geboren. Die erste WM, die die Spieler bewusst erlebten, war 1990, als eine Generation englischer Jungs eine ernüchternde Lektion über die grausame Effektivität des deutschen Fußballs erteilt bekam. Von Joe Cole über John Terry, Frank Lampard zu Steven Gerrard, die Geschichte vom Halbfinale in Turin war ihre Einführung in die vielen grausamen Niederlagen, die England bei Turnieren erlitt (...) Doch wenn die Spieler eine Geschichte über das Halbfinale in Turin brauchen, müssen sie nur den Co-Trainer fragen. Stuart Pearce vergab den vorletzten Elfmeter. Die Narben trägt er immer noch."

Episches Duell

Auch Henry Winter ( Daily Telegraph) rasselt vor dem Achtelfinal-Duell bereits mit den Ketten. "Es sind die Deutschen, schon wieder. Geschichte und Geschichten, Hoffnungen und Ängste vermischen sich in einem epischen Duell. Der Erzfeind. In der Stadt der Rosen geht es gegen den Dorn im Fleisch der englischen Mannschaft." Und der Blick geht noch weiter: "Sollte England das Spiel gegen Özil und Co. überleben, wartet Argentinien. Vielleicht soll England dieses Turnier wirklich gewinnen und dabei alte Geister vertreiben. Die Geschichte wiederholt sich selbst."

WM 2010: Pressestimmen
:"Her mit den Deutschen"

Während die deutsche Presse kollektiv aufatmet und Mesut Özil feiert, stellen die englischen Zeitungen fest, dass die DFB-Elf keineswegs unschlagbar ist. Die Pressestimmen aus Deutschland und England.

Jere Longman ( New York Times) spürt die Erlösung der Amerikaner nach dem Siegtor in letzter Sekunde. "Ein Tor wurde wegen Abseits aberkannt. Einige Schüsse trafen den Pfosten, einige verpassten das Tor um Zentimeter. Nach 90 Minuten stand die Mannschaft vor dem Abgrund. Aber es gibt einen Geist in diesem Team, ein Verlangen, es immer weiter zu versuchen. Ein Glaube, dass Einsatz am Ende belohnt wird." Und dann kam der Konter in der Nachspielzeit und Landon Donovan "erzielte nach dem Abpraller das Tor zum dramatischsten und wichtigsten Sieg in der Geschichte der US-amerikanischen Nationalmannschaft. Eine Mannschaft, der ein Siegtor gegen Slowenien aberkannt wurde und die auch am Mittwoch unter den Schiedsrichter-Entscheidungen litt, bestand am Ende. Sie erlaubte es sich nicht, auch nur einen einzigen Gedanken ans Scheitern zu verschwenden."

Landon Donovan, USA (Foto: ap)

Auch Kelly Whiteside ( USA Today) hat sich mit der wachsenden Begeisterung um Soccer in der neuen Welt angesteckt: "Als der Mannschaftsbus das Stadion in Pretoria anfuhr, waren die Straßen von US-Fans gesäumt. Nach dem Sieg jubelte nicht nur die Mannschaft, sondern die Wall Street und das Weiße Haus. Ex-Präsident Bill Clinton besuchte das Team nach dem dramatischen Sieg in der Kabine." Nur zwölf Sekunden habe die Mannschaft gebraucht, um sich in die Herzen vieler US-Amerikaner zu spielen. "Torwart Tim Howard leitet mit einem Abwurf den Konter über Donovan ein. Dann war der Ball im Netz. Der Kapitän hat seit der enttäuschenden WM 2006 auf diesen Moment gewartet."

Zwölf Sekunden veränderten auch für Grahame L. Jones ( Los Angeles Times) die Welt des Fußballs: "Donovan rannte die rechte Seite herunter, spielte auf Altidore, dessen Flanke Clint Dempsey erreichte. Der Abpraller von Torwart M'Bolhi fiel Donovan vor die Füße. Der richtige Mann zur richtigen Zeit. In Algerien herrschte Stille, in den USA reiner Jubel. Es brauchte nur zwölf Sekunden." Im Achtelfinale gegen Ghana gelte es, die Niederlage von 2006 und das frühe Ausscheiden vergessen zu machen. "Wunder sind möglich."

Manabu Sasaki berichtet in der japanischen Zeitung Asahi über den Handel von WM-Tickets auf dem Schwarzmarkt: "Bei der WM sind die Spiele weiterhin sehr lebhaft. Die Eintrittskarten für die wichtigsten Spiele werden fast alle umgehend verkauft. Auch Wiederverkäufer von Karten haben großen Erfolg." Sie bekämen die Karten oft für den doppelten oder dreifachen Preis los. "Ein junger Wiederverkäufer aus Mexiko erklärt: 'Du musst dich einer Person annähern, die vor einer Ticketverkaufsstelle steht, besorgt aussieht und den Anschein macht, sofort verschwinden zu wollen, und ihr die Karte heimlich verkaufen, das ist die beste Methode.'"

Das richterliche Urteil im Falle des vermeintlichen "Guerilla-Marketings" einiger freizügiger holländischer Fans beschäftigt S. Kwinika und M. Schwikowsksky ( taz): "Sie sind blond, sie sind Holländerinnen und sie sind noch einmal davongekommen. Barbara Castelein und Mirie Nieuwpoorts lachten gestern Mittag vor dem Amtsgericht Johannesburg in die Kameras und posierten mit Blumen, die ihnen patriotische Niederländer geschenkt hatten. Kurz zuvor war eine Klage gegen sie wegen 'Guerilla-Marketing' überraschend zurückgezogen worden. Der Fall hatte weltweit Schlagzeilen gemacht und ein Schlaglicht auf die kuriosen Restriktionen geworfen, mit denen die Fifa die WM und ihr Umfeld belegt hat."

Harald Martenstein ( Zeit Online) wundert sich über das Verhalten südafrikanischer Krimineller: "Meine Zimmerwirtin in Durban hat ein Problem. In der Gegend, wo sie wohnt, wird ständig eingebrochen. So etwas passiert meistens am Samstagnachmittag. Am Samstag sind oft Sportfeste der Schulen, da gehen die Eltern hin, um ihren Kindern zuzuschauen, auch das Dienstmädchen hat frei, das Haus ist also menschenleer, die Gangster müssen deswegen niemanden mühsam fesseln, niederschlagen oder erschießen. Gangster sind nämlich auch nur Menschen und machen es sich gerne einfach."

Mageninnereien von Schafen

Johannes Dietrich ( Stuttgarter Zeitung) hat in Südafrika doch tatsächlich eine Vuvuzela-freie Zone ausmachen können: "Sie liegt rund 400 Kilometer östlich von Johannesburg, in einem Territorium, das weltweit als der Krügerpark bekannt ist. Die Verwaltung des 19.000 Quadratkilometer großen Gebiets hat dort ein Verbot der umstrittenen Tröte erlassen. Offenbar soll dem afrikanischen Elefanten keine Konkurrenz erwachsen."

Ronny Blaschke ( Berliner Zeitung) hat das kulinarische Angebot Südafrikas genauer unter die Lupe genommen: Er beginnt mit "Boerewors, Bauernwurst, eine traditionelle Speise der Buren. Zum Dessert gibt es Koeksusters, eine Kalorienbombe, süß wie Sirup." Weiter geht es mit "Zitronensuppe aus Nigeria, ein Fleischgericht namens Chapati aus Kenia. Unwiderstehlich und günstig. Die Mägen werden gut gefüllt." Doch es geht auch anders: "Amanqina, gebratene Hühnerfüße, und Ulusu, Mageninnereien von Schafen. Das Gericht würde als Requisite für einen Horrorfilm durchgehen. Hier sind die Grenzen erreicht, ich muss zur Verköstigung überredet werden. Irgendwann gebe ich nach - mit geschlossenen Augen und Gedanken an den nächsten Urlaub."

Presseschau zusammengestellt von Matthias Nedoklan und Kai Butterweck. Aus dem Japanischen übersetzt von Angela Falero, aus dem Spanischen von Christian Schwöbel

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