WM 2010: Deutschland:Der Schwung des Hammerwerfers

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Beim Einzug ins Viertelfinale zeigt die deutsche Elf, dass sie auch schlau und verschlagen sein kann. Verantwortlich dafür ist unter anderem Manuel Neuers großer Bruder.

Philipp Selldorf

Marcel Neuer sagt, dass es eine Menge Unterschiede zwischen ihm und seinem Bruder Manuel gibt. "Er ist blond, meine Haare sind schwarz", hebt er zum Beispiel hervor, und: "Ich studiere Theologie und Geschichte, er den Fußball." Aber zum Glück widmet sich Marcel Neuer nicht nur den Tiefen der Religion, sondern auch dem irdischen Leben - er ist Schiedsrichter im Fußball-Kreis Gelsenkirchen und hat in dieser Eigenschaft einen kleinen Anteil daran, dass Deutschland gegen England 1:0 in Führung ging. Und ganz entfernt hat auch er dazu beigetragen, dass diese brave und strebsame neue Nationalmannschaft auch schlau und verschlagen handeln kann.

Kolossale Extrawaffe: Manuel Neuer beim Abschlag. (Foto: online.sdesport)

Dieses 1:0 war zwar ein Außenseiter im Vergleich mit den edlen Kontertoren, die dem deutschen 4:1-Sieg eine Krone aufsetzten, es wirkte beinahe primitiv in seiner Schlichtheit. Aber es gehörte mehr planender Verstand dazu, als ihm anzusehen war.

Anzusehen war das Tor wie ein Bunte-Liga-Treffer von der Stadtwaldwiese: Torwart prügelt die Kugel weit nach vorn, Mittelstürmer läuft los, spitzelt Ball rein. Doch es war kein Zufall, dass Miroslav Klose in jenem Moment Richtung Tor startete, als Manuel Neuer mit dem Schwung eines Hammerwerfers den kolossalen Abschlag von der Fünfmeter-Linie machte.

Talent zum "Drunterkloppen"

Neuer wusste, was er zu tun hatte, er hatte ein Kommando empfangen. "Ich habe mich zurückfallen lassen und Handzeichen gegeben, dass er einfach mal draufhalten soll", berichtete Klose am Montag. Er hatte erkannt, dass Neuers Talent zum "Drunterkloppen" - so nennt er selbst sein gewaltiges Schussvermögen - eine Extrawaffe sein könnte. Sie hatten dann eine geheime Zeichensprache verabredet, um sich auf den Versuch eines Bunte-Liga-Treffers zu verständigen.

Das 1:0 entstammte also Vorsatz und Hinterlist, wozu sich auch noch seltenes Wissen gesellte, denn dass es beim Abstoß kein Abseits gibt, das wissen außer ein paar Eingeweihten nur die Fußballjuristen, Männer wie Marcel Neuer etwa. "Miro hatte mit mir darüber gesprochen, aber ich wusste es vorher schon: Mein Bruder ist ja Schiedsrichter in der Oberliga", erzählte Manuel Neuer in Bloemfontein, und es war nicht klar, auf wen er jetzt stolzer war: Auf sich selbst, auf Miroslav Klose oder auf seinen großen Bruder.

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Man hat dieser unschuldig neuen Nationalelf im Laufe des Turnieres schon öfter angesehen, dass sie überraschen und spontan sein kann, dass sie eifrig, talentiert und gelehrig ist, aber solche Momente von Raffinement und Tücke hat sie bisher selten offeriert. Dass sich Klose dieses kleine, effektive Manöver ausgedacht hat, hätten ihm vermutlich viele nicht zugetraut.

Er musste sich "einfach nur durchsetzen, der Rest war nicht mehr schwer", sagt Torschütze Miroslav Klose (rechts) über das Duell mit Englands Matthew Upson vor dem 1:0. (Foto: ap)

Das zeigt wieder, dass er ein erstaunlicher Mensch ist, in dem man sich nur täuschen kann. Nach Südafrika reiste er in der Rolle des stillen, melancholischen Mannes, der die Gütesiegel Nationalspieler und Bayern-Profi bloß noch deshalb besitzt, weil sie ihm vor Jahren verliehen worden waren. Längst redeten die Leute in Deutschland über ihn wie über einen alten Sheriff, der immer noch den Stern trägt, aber nicht mehr schnell ziehen kann. Was für ein Irrtum. Seit dem Startpfiff zum Turnier ist er wieder der geschmeidige, gefährliche und überall konstruktiv mitspielende Angreifer, den diese Mannschaft dringend braucht. Wie weit sein Wirkungskreis reicht, konnte man erleben, als er Özil vor dem 4:1 mit feinem Schlagball auf den Weg schickte: Klose kam aus dem Deckungszentrum hervor, bevor er den Pass gab.

Geschlossenes Ganzes

Am Montag, heimgekehrt ins südafrikanische DFB-Hauptquartier an der staubigen Hennops-River-Street Nr. 1, hat Miroslav Klose vor der Weltpresse durch sein frisches Selbstbewusstsein Eindruck gemacht. Er sprach tonlos wie immer, aber seine Sätze waren mit Kraft aufgepumpt wie ein Bodybuilder. Jedenfalls hörte es sich so an. Klose sagte über sich: "Man hat ja eine gewisse Qualität" - für seine Verhältnisse ein Protzen. Über seinen Abschluss zum 1:0 berichtete er, dass er sich "einfach nur noch durchsetzen" musste, "der Rest war nicht mehr schwer". Ein Raunen ging durch den Saal, weil das frech klang, dabei war es nur die nüchterne Wahrheit: Sein englischer Gegenspieler Upson verfolgte ihn so schwerfällig, als ob er Holzschuhe tragen würde.

Überhaupt hatte die Nicht-Mannschaft von der Insel auf Klose einen ziemlich abschreckenden Eindruck hinterlassen, wie er sich auch offen zu sagen erlaubte. Er habe ein Team erwartet, das gemeinsam eine historische Chance nutzen wolle und samt und sonders "mit dem Messer zwischen den Zähnen" auf den Platz komme - "aber nach fünf bis sieben Minuten habe ich gesehen, dass das nicht der Fall war".

Dass sich die deutsche Fußball-Auswahl als geschlossenes Ganzes versteht und auch so aufzutreten weiß, das ist für Klose die banale, aber unschlagbare Begründung für den Erfolg im Turnier. Aus dieser Eigenheit ergeben sich seiner Meinung nach auch die Chancen für die Begegnung mit den großmächtigen Argentiniern: "Wenn man die Namen der einzelnen Spieler abgleicht, dann ist Argentinien einfach besser. Aber das war gegen England ja auch so."

Wenn bisher von den sogenannten Führungsspielern im Nationalteam die Rede war, dann wurden immer Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm genannt. Mit Recht, wie sich bisher in jedem WM-Spiel beobachten ließ. Klose komplettiert dieses kleine Leitungsgremium: Als stiller Teilhaber der Verantwortung - und als Tüftler seiner eigenen Tore.

© SZ vom 29.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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