WM 2010: Brasilien:79 Minuten, ein Tor

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Ohne Ronaldinho und Adriano, aber mit zwei Wolfsburgern: Verwundert nimmt Brasilien das WM-Aufgebot zur Kenntnis. Doch Staatspräsident Lula lobt den Nationaltrainer.

Peter Burghardt

Die Inszenierung war schon mal gelungen, gerade für Brasiliens verblüffendsten Teilnehmer an dieser Fußball-Weltmeisterschaft. Bild für Bild huschten die 23 Mann über den Monitor eines Hotels in Rio de Janeiro, als Nationaltrainer Carlos Dunga seine Reisegruppe für Südafrika verriet. Jeder Name mit jedem Porträt im gelben Trikot war drei Sekunden lang zu sehen.

Grafite. (Foto: Foto: imago)

Das Publikum wurde schon unruhig, und Blogger rissen erste Witze, denn in der Serie der Auserwählten fehlten mehrere Prominente: Wo blieben Adriano und Ronaldinho, zwei der berühmtesten Angreifer, was war mit Neymar und Ganso, zwei Entdeckungen der brasilianischen Liga? Sie alle kamen nicht vor in Dungas Liste, dafür wurde nach 66 Sekunden und 22 Kandidaten die 23. Visitenkarte eingeblendet, mit überraschendem Inhalt: Edinaldo Batista Libânio, kurz Grafite. Geburtsdatum: 2.4.1979. Klub: VfL Wolfsburg. Länderspiele: zwei.

Mit dessen Vereinskollegen Josué hatte man noch gerechnet, der Mittelfeldspieler gehört seit 2007 zum Stamm der selecao. Aber Grafite? Als Torschützenkönig der Bundesliga mag der ein Kandidat gewesen sein, doch zuletzt schoss er öfter am Ziel vorbei als hinein (elfmal), und der vormalige Trainer Armin Veh schickte ihn zwischendurch auf Heimaturlaub. Viele Landsleute kennen ihn kaum, in der Auswahl wurde der Auswanderer in 31 Lebensjahren bloß zweimal eingewechselt.

2005 beim 3:0 gegen Guatemala in Sao Paulo nach 38 Minuten für Altmeister Romario, dort traf der Debütant zum 3:0. Und am 2. März 2010 beim 2:0 in London gegen Irland, da löste Grafite jenen Adriano ab (63.), den er nun ausgebootet hat. Kurz darauf bereitete er Robinhos Tor zum 3:0 vor. Mit der Nominierung erlebt der Wolfsburger jetzt "die größte Emotion meines Lebens", und Dunga erläutert: "Manche Spieler brauchen nur fünf Minuten, um zu zeigen, dass sie dazu gehören."

Da staunten die Zuhörer, nicht wenige Anhänger und Juroren sind irritiert von der durchschnittlich größten (1,82 Meter) und ältesten Belegschaft (28,6 Jahre) des Rekordweltmeisters bei einer WM. "Übertrieben konservativ", schimpft ein Kommentar der Zeitung Folha de Sao Paulo. Die Kreativität werde begraben, wettert O Estado de Sao Paulo.

Die Abwehr mit Torwart Júlio César sowie den Verteidiger Lúcio und Maicón von Inter Mailand, Juan von AS Rom, Dani Alves vom FC Barcelona sei ja wunderbar für wenig Gegentore, und mit dem heimgekehrten Stürmer Robinho vom FC Santos und Luis Fabiano vom FC Sevilla könne man sich in der Offensive auch sehen lassen.

Aber wer außer dem angeschlagenen Regisseur Kaka von Real Madrid solle für Phantasie sorgen? Wozu der Römer Reservist Julio Baptista, wozu Kléberson von Flamengo Rio de Janeiro und Gilberto von Cruzeiro Belo Horizonte, zwei von dreien aus der heimischen Meisterschaft?

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Was bleibt von der Bundesliga-Saison 2009/2010? Zum Beispiel Schalke-Witze, fröhliche Holländer, eine LV-Schwäche und ein Maskottchen aus Köln. Eine Bilanz in Bildern.

Da musste Dunga eine Stunde lang erklären, doch das ist er gewohnt. Seit vier Jahren kommandiert der frühere Stuttgarter Dunga nun Brasiliens Elf, seit dem Reinfall von Vorgänger Carlos Alberto Parreira 2006 in Deutschland. Freunde der Spielkunst, des jogo bonito, mögen ihn nicht so sehr.

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Ein Libero im Tor, ein Präsidentschaftskandidat in der Abwehr und ein EFFIFU im Angriff - Bundestrainer Joachim Löw hat für seinen Angriff auf den WM-Titel eine sonderbare Reisegruppe um sich geschart.

Allerdings eroberte der rustikale Chef 2007 die Copa América, 2009 den Confederations-Cup, und die südamerikanische WM-Qualifikation gewann sein Team. "Eine Siegermannschaft" werde er zum Turnier schicken, berichtete Dunga, assistiert vom ehemaligen Bayern-Profi Jorginho. Dunga gehört selbst zu einer Sieger-Generation, den Ergebnisfußball setzt er fort.

Luftikusse kann er da nicht brauchen, er sucht "Patrioten". Leute wie Dani Alves, der ihm versprach, er spiele außer Torwart alles. Ronaldinho ist ihm zu instabil. Der 18-jährige Neymar und der 20-jährige Ganso von Pelés FC Santos wiederum bekämen ihre Chance schon noch, in vier Jahren ist die WM in Brasilien. "Es heißt, ich soll Spieler mitnehmen, damit sie für 2014 Erfahrung sammeln", sagt Dunga, "aber ich muss heute gewinnen." Zunächst am 15. Juni gegen Nordkorea, am 20. Juni gegen die Elfenbeinküste, am 25. Juni gegen Portugal.

Der dicke Ronaldo von Corinthians stand sowieso nicht mehr zur Debatte. Das gab sogar Staatspräsident und Corinthians-Fan Luiz Lula da Silva zu. Dunga habe "Persönlichkeit gezeigt", weil er sich keine populären Spieler habe aufschwatzen lassen, lobte Lula, verwechselte Dunga jedoch zwischendurch mit seinem Justizstaatssekretär Tuma.

Und Adriano? Der fehlte elfmal bei Flamengos Training und wurde mit Geschäften bei Drogenhändlern in einer Favela erwischt. "Wir haben ihm so viele Chancen gegeben", sagt Dunga. Dann lieber Grafite, Wolfsburg, 79 Länderspiel-Minuten, ein Tor.

© SZ vom 11.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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