Jannik Sinner im Halbfinale in Wimbledon:Skifahrer auf grünem Rasen

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Der Italiener Jannik Sinner hechtet nun hauptberuflich nach Bällen, anstatt sich professionell die Berge hinunterzustürzen. (Foto: Dylan Martinez/Reuters)

Jannik Sinner hätte eine Karriere im Wintersport haben können, doch er wählte Tennis. Seine Furchtlosigkeit hat er sich jedenfalls bewahrt, und auch der Spott in Wimbledon lässt ihn kalt. Nun will er Novak Djokovic schlagen.

Von Barbara Klimke, London

Mit dem Alter kommen die Rekorde, und auch im Falle des Tennisspielers Novak Djokovic handelt es sich nicht um Abrakadabra, sondern nur um Algebra. Als er nach dem Viertelfinale vor dem Mikrofon stand, war er seit 34 Matches auf dem Rasen von Wimbledon ungeschlagen, seit dem Sommer 2018. Es war, in einer anderen Rechnung, das 400. Grand-Slam-Match seiner Karriere, 357 davon hat er gewonnen. Und außerdem hat er nun zum 46 Mal das Halbfinale dieser höchsten Wettbewerbskategorie erreicht und mit Roger Federer, der inzwischen Pensionär ist, gleichgezogen. Ein beeindruckendes Statistikwerk? Vielleicht für das Publikum. Der serbische Dauersieger hob nicht mal eine Augenbraue. "Am Ende des Tages", sagte er, "sind das nur Zahlen."

An Zahlen denkt er möglicherweise in den entspannten Tagen nach einem Turnier, aber erst, wenn der Pokal frisch poliert im Trophäenschrank steht. Und bei seiner diesjährigen Wimbledon-Mission steckt Djokovic, 36, mitten im Schaffensprozess: "Das Turnier dauert an, ich bin noch dabei, und das ist alles, woran ich denke."

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Kommentar von Barbara Klimke

Der letzte der Epigonen, der ihn vom Kurs abbringen wollte, war der Russe Andrej Rublew, 25, der dem Titelverteidiger einen Satz abjagte, ihn nervte und hetzte, ihn aus seinem Rasenreich aber nicht vertreiben konnte (4:6, 6:1, 6:4, 6:3). Auch wenn Djokovic beim letzten Punkt im dritten Durchgang, der sechs Mal über Einstand ging, erhebliche mehr Mühe hatte, als er zugab: "Sie wollen alle meinen Skalp. Aber das passiert nicht."

Als Nächstes wird sich am Freitag nun Jannik Sinner an der Aufgabe versuchen, der zwar noch jünger als Rublew ist, erst 21 Jahre alt, aber nach einem Sieg über den Russen Roman Safiullin (6:4, 3:6, 6:2, 6:2) und vier vergeblichen Anläufen nun erstmals in seiner Karriere zum Quartett der Besten eines Grand-Slam-Turniers zählt. "Das bedeutet mir sehr viel", sagte Sinner in seiner bescheidenen Art, und dann erzählte er, wie viel Arbeit, wie viele Stunden des harten Trainings, auch abseits des Scheinwerferlichts, für diesen Moment des kleinen Triumphs nötig waren.

Der in Südtirol, in Innichen, geborene Sinner hatte für das Tennis einst seine sehr erfolgversprechende Zukunft als Skirennfahrer aufgegeben. Bei Youtube lassen sich Filmaufnahmen finden, auf denen zu sehen ist, wie er als kleiner Junge in nahezu perfektem Carvingstil durch die Riesenslalom-Tore kurvte.

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Als Achtjähriger war er italienischer Meister seiner Altersklasse, als Zwölfjähriger die Nummer zwei des Landes. Er traf sich nachmittags im Winter mit den Freunden auf der Piste, spielte nebenbei Fußball, und das Tennisspiel, für das er auch noch Zeit fand, war in seiner persönlichen Hitliste lange nur die Nummer drei.

Was ihn dazu bewegte, das Skifahren zugunsten des Schlagabtauschs mit kleinen gelben Bällen aufzugeben, war womöglich der Umstand, dass ihn die anderen kleinen Rennfahrer körperlich überholten; er wirkt bis heute trotz der Länge von 1,88 Metern schmächtig. Und Skirennfahren, so deutete er einmal an, verzeiht keine Fehler: Schon die kleinste Unkonzentriertheit, eine minimale Abweichung von der Ideallinie, kostet Zeit, die nicht wieder aufzuholen ist. In einem Tennismatch hingehen hat man immer eine zweite Chance.

Als 13-Jähriger zog er um, von den Bergen an die italienische Riviera, nach Bordighera, er trainierte dort bei Massimo Sartori und bei Riccardo Piatti, einem Coach, der auch Djokovic schon über die Flugeigenschaften der Filzbälle unterrichtet hatte. Was sich Jannik Sinner, der Rennfahrer, aus der Zeit seiner Pistenabenteuer bewahrte, sind seine Furchtlosigkeit auf dem Tennisplatz und sein Sinn fürs Risiko, wie er sagt: "Ich liebe die Geschwindigkeit."

Sinners Trainer Darren Cahill hat schon mit Andre Agassi erfolgreich gearbeitet

Er hat ein neues Expertenteam um sich versammelt, dazu zählt seit dem vergangenen Sommer der Australier Darren Cahill, 57, der als Trainer eine Reihe von namhaften Profis auf die physischen und psychischen Prüfungen eines Centre-Court-Duells vorbereitete: etwa Andre Agassi, Andy Murray, Simona Halep und Lleyton Hewitt. "Darren weiß ein bisschen besser, wie man in bestimmten Momenten reagieren muss", sagte Sinner, inzwischen die Nummer acht der Weltrangliste, nach dem Viertelfinale: "Und das ist neu für mich."

Denn er strebt nun nicht weniger als die Revanche an gegen Djokovic: Vor Jahresfrist war er noch gescheitert an der Aufgabe, den stählernen Siegeswillen des inzwischen siebenmaligen Wimbledonsiegers ausgerechnet auf dem Rasenrechteck zu brechen, das dieser als sein angestammtes Territorium ansieht. Sinner lag damals im Viertelfinale schon zwei Sätze in Führung, ehe er das Match aus den Händen gleiten ließ, 7:5, 6:2, 3:6, 2:6, 2:6. Es soll nicht wieder vorkommen: "Ich kann heute viele Stunden auf dem Platz stehen, ohne zu leiden", erklärte er dem Publikum. "Und es hilft zu wissen, dass man ein Top-Ten-Spieler ist." Er spiele den Slice jetzt ohne nachzudenken; und er habe sein Volleyspiel stark verbessert.

Weil er mit einer bunten Ledertasche auf den Court schritt, wurde er in Wimbledon verspottet

Als Jannik Sinner vor zehn Tagen erstmals wieder auf den Platz schritt im All England Club, da war es vor allem ein Accessoire, das die Blicke der Tribünengäste auf sich zog: eine Ledertasche eines italienischen Luxuslabels, die in ihrer charakteristischen Farbgebung den strengen Regeln des noblen Clubs zu widersprechen schien. Auf dem Court sind nur weiße Kleidung und weiße Modeutensilien erlaubt. Es bedurfte offenbar einiger Verhandlungskunst hinter den Kulissen, ehe das auffällige Reisegepäck über Sinners Schulter die Einlasskontrolle passieren durfte.

"Stilikone", wurde der junge Südtiroler in den Umkleideräumen angeblich hinter vorgehaltener Hand spöttisch genannt. Er hat auch dazu tapfer Stellung genommen. Das Accessoire, sagte er vor dem Djokovic-Duell, beeinflusse sein Spiel nicht. Es gehe nicht um einen neuen Schläger-Ausrüster oder einen Schuhwechsel: "Zu gewinnen, bedeutet viel mehr als eine Tasche zu tragen." Mit Taschen verhält es sich letztlich wie mit Rekorden: Sie sind Beiwerk; es ist das Ergebnis, das zählt.

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