Daniil Medwedew im Wimbledon-Halbfinale:Die Kuh lernt fliegen

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Rasenballett: Daniil Medwedew hat das Gras zu schätzen gelernt. (Foto: Alberto Pezzali/AP)

Daniil Medwedews Sympathie für Rasentennis hielt sich lange stark in Grenzen. Nun lobt er die Halme über den grünen Klee, steht im Halbfinale gegen Carlos Alcaraz - hat aber Glück, dass er nicht schon disqualifiziert wurde.

Von Barbara Klimke, London

Daniil Medwedew spricht fließend Französisch, aber das heißt nicht, dass er mit allen Aspekten der dortigen Lebensart zufrieden wäre. Den körnigen Untergrund, auf dem die Pariser meinen, Tennis spielen zu müssen, hat er vor seiner Abreise nach England mit Geringschätzung gestraft: "Wegen des Windes und der Trockenheit hatte ich spätestens nach dem dritten Ballwechsel den Mund voller Sand", berichtete er. "Ich weiß nicht, ob die Leute gern Sand essen, ob sie gern Sand in ihren Taschen, Schuhen und Socken haben." Er jedenfalls halte nichts von rotem Ziegelmehl.

Seine Sympathie für Gras hielt sich lange ebenfalls in Grenzen. Zwar war die Verachtung nicht so tief wie einst bei Ivan Lendl ("Gras ist für Kühe!"). Aber auch auf Rasen hat Medwedew gefremdelt, auf dem Geläuf fühlte er sich "nicht zuhause". Doch das ändert sich gerade, er komme näher, teilte er grinsend mit: "Ich bin schon an der Tür." Im Grunde muss er nur noch die Pforte aufstoßen, denn wenn er am Freitag gegen den Spanier Carlos Alcaraz gewinnt, steht er im Wimbledonfinale.

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Im Falle Medwedews ist die Transformation so erstaunlich, als würde besagte Kuh plötzlich fliegen. Medwedew, 27, betrachtet sich als Hartplatz-Spezialist. Auf dem synthetischen Boden, auf dem er beim Schlägerschwingen nicht nachdenken muss und intuitiv die richtige Taktik findet, hat er seine wichtigste Trophäe eingeheimst: 2021 siegte er in Flushing Meadows bei den US Open. Bei den Australian Open stand er zweimal im Finale; im Gegensatz dazu verstolperte er bis zu diesem Sommer seine Auftritte auf der Wimbledonwiese regelmäßig, nur 2021 hatte er das Achtelfinale erreicht, 2022 war er wie alle Russen wegen des Ukraine-Kriegs von der Teilnahme im All England Club ausgeschlossen. Seine Bilanz war noch schlechter als auf dem verschmähten Pariser Sand .

Medwedew lobt die Blumen - und gewinnt

Das weckte seinen Trotz. Und Trotz spornt Medwedew, der auf dem Platz beständig zwischen Komödiant und Poltergeist irrlichtert und sich in dieser Rolle eingerichtet hat, an. Er hat seit Januar zwar seine Trophäensammlung um fünf weitere Titel in Rotterdam, Doha, Dubai, Miami und sogar auf Sand in Rom erweitert, doch bei den ersten beiden Grand-Slam-Turnieren des Jahres blieb der Weltranglistendritte eklatant unter seinen Möglichkeiten; in Paris kam das Aus sogar schon in Runde eins: "Deshalb war es wichtig, mir selbst und vielleicht auch allen anderen zu zeigen, was ich kann."

So kam er nach Wimbledon und lobte erstmal die Blumen: "Alle am richtigen Platz - und in der richtigen Farbe." Er lobte die Atmosphäre, die Umkleideräume, das Essen. Sogar den Ausschluss im vergangenen Jahr wegen seiner russischen Nationalität beurteilte der gebürtige Moskauer mit Milde: "Ich akzeptiere die Regeln. Ich war enttäuscht, aber ich habe einen schönen Urlaub mit der Familie gemacht." In dieser heiteren Gemütsverfassung hat er fünf Gegner nacheinander aus dem Feld geschlagen und seinen Rasenrhythmus gefunden. Den Takt auf Turf beschreibt er so: Gut aufschlagen, gut returnieren und ein Break pro Satz schaffen. "Klingt einfach", sagte er, "aber das Problem ist, der Gegner versucht dasselbe."

Geht einem Streit nicht unbedingt aus dem Weg: Daniil Medwedew diskutiert mit dem Schiedsrichter. (Foto: Antoine Couvercelle/Panoramic/Imago)

Im Viertelfinale beendete er den Siegeszug des US-Amerikaners Christopher Eubanks, 27, der mit der Unbekümmertheit des Außenseiters, ansteckender Lockerheit und risikoreichem Angriffsspiel das Londoner Publikum entzückte. Mitte des Matches sah sich Medwedew schon fast verlieren, ehe er sich aufrappelte und zur Annahme der gegnerischen Aufschläge ein paar Meter näher an die Grundlinie marschierte. Das Ergebnis: 6:1, 1:6, 4:6, 7:6, 6:1. Dass ihm dabei die Erfahrung aus 86 Grand-Slam-Duellen half, gab er gern zu. Und er hatte Glück, dass er nur eine Verwarnung kassierte, als er in einem seiner Rumpelstilzchen-Anfälle einen Ball in Richtung der Fernsehkamera und Kamerafrau drosch: Kollege Djokovic hatte sich wegen eines ähnlichen Vergehens 2020 in New York eine Turnier-Disqualifikation eingehandelt. Medwedew hat sich für sein rüdes Benehmen entschuldigt, allerdings unter Zuhilfenahme einer Reihe von Ausflüchten.

Alcaraz' Vater löste eine vermeintliche Spionage-Affäre aus

Am Freitag trifft er nun im ersten Match des Tages auf die Nummer eins der Welt, Carlos Alcaraz aus Spanien; danach spielen Djokovic und Jannik Sinner, 21, aus Südtirol, den zweiten Finalisten aus. Auch Alcaraz, 20, hat er erst kürzlich die Vorzüge des englischen Weidelgrases für sich entdeckt und ist einschließlich des Auftritts im Londoner Queen's Club nun in neun Matches nacheinander nicht aus dem Tritt gekommen.

In Wimbledon löste er pünktlich zum Halbfinale eine kleine Kontroverse aus, weil sein Vater auf dem Trainingsgelände im Aorangi Park auftauchte und Djokovics Übungseinheit filmte. Djokovic war "not amused", die englischen Boulevardblätter witterten Spionage, aber Filmen beim Training ist nicht ausdrücklich verboten. Alcaraz Junior versuchte sich als Diplomat und entschuldigte den Vorfall mit der überbordenden Tennisleidenschaft seines Vaters, der alles filme, was gelb ist, fliegt und aus Filz ist.

Über Medwedews Fähigkeiten ist Alcaraz hinreichend informiert, dasselbe gilt umgekehrt. Der Russe ist beeindruckt von der Power seines Gegners. Der Spanier lobt dessen Athletik. Medwedew erwische jeden Ball, sagte er, weshalb der Kollege Holger Rune ihm den Namen "Oktopus" verlieh. Sie haben sich übrigens schon einmal duelliert in Wimbledon: 2021 gewann Medwedew in der zweiten Runde. Aber das bedeutet wenig: Damals war Alcaraz ein Teenager. Und der Krake hasste Rasen.

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