Bremer Wiederaufbau:Vom Werder-Weg ist nichts mehr übrig

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Muss wieder auf Trainersuche gehen: Werder-Sportchef Frank Baumann. (Foto: Stuart Franklin/AFP)

Nach der schwierigsten Transferperiode der Vereinsgeschichte steht Sportchef Frank Baumann eine ungemütliche Mitgliederversammlung bevor - doch ein Hauch von Zuversicht ist wieder spürbar an der Weser.

Von Thomas Hürner, Bremen

Den Bürgern dieser Welt muss man nicht erzählen, welch große Veränderungen innerhalb der vergangenen zwei Jahre über den Globus gezogen sind, aber auch der Mikrokosmos des SV Werder musste Einschnitte von bedeutsamer Tragweite verkraften. Im November 2019, einen Monat vor der erstmaligen Erwähnung eines Virus aus China, traf sich die Bremer Fußballfamilie zum bislang letzten Mal für eine Mitgliederversammlung, aus der sowohl die Verantwortlichen als auch die Beobachter mit Vorfreude auf die Zukunft hervorgingen. Beim Werder-Portal "Deichstube" etwa schwärmte man hinterher von den "mächtig guten Nachrichten", die der Bremer Sportchef Frank Baumann zu verkünden hatte. Außerdem wurde ein Rekordumsatz vermeldet, der "Werder-Weg" mit dem hausintern ausgebildeten Trainer Florian Kohfeldt beschworen und die Veranstaltung beendet mit dem traditionellen, dreifachen "Hipp, hipp, hurra!".

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Aufgrund pandemiebedingter Terminverschiebungen trifft sich die grün-weiße Gemeinschaft an diesem Sonntag erstmals wieder seit jenem Tag im November 2019, und es ist wohl keine allzu kühne Prognose, dass bei dieser Mitgliederversammlung eine eher trübe Bilanz der jüngsten Entwicklungen beim Traditionsklub vom Osterdeich gezogen wird. Bekanntlich ging es für den SV Werder nicht steil nach oben, sondern durch den Abstieg in die zweite Liga in die genau gegensätzliche Richtung. Die Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit wurde immer größer, die Aufbruchstimmung wich dem Defätismus - und die damaligen Hoffnungsträger sind entweder nicht mehr da, oder sie gelten nun als Hauptschuldige für den schleichenden Verfall des früheren Meisters und Europapokalsiegers.

Dass der Kader an Qualität verloren hat, "wissen wir auch", sagte Baumann

"Ich werde mich dem stellen", sagte Sportchef Baumann mit Blick auf die drohende Ablehnung bei der bevorstehenden Zusammenkunft im Bremer Weserstadion. Obwohl er innerhalb der Anhängerschaft einiges an Beliebtheit eingebüßt hat, was bei einer 1:4-Heimniederlage gegen Paderborn in lauten "Baumann raus!"-Rufen kulminierte, werden ihm einige der Anwesenden vermutlich auch zugute halten, dass die Unwägbarkeiten in diesem Transfersommer nirgends größer waren als beim SV Werder.

Im Großen und Ganzen zeigte sich Baumann dennoch "zufrieden" über die abgelaufene Transferperiode, von der klar war, dass es die wohl schwierigste der Klubgeschichte sein würde. Im Gegensatz zum ebenfalls abgestiegenen FC Schalke, der im Grunde bereits vor einem Dreivierteljahr mit den Planungen für die Zweitklassigkeit beginnen konnte, waren die Bremer erst am letzten Spieltag abgestiegen und standen daher unter Zeitdruck. Innerhalb weniger Wochen mussten das Gehaltsniveau deutlich gesenkt und 30 Millionen an Transferüberschuss generiert werden, um es durch das Lizenzierungsverfahren der Deutschen Fußball-Liga (DFL) zu schaffen. Es kann also durchaus als Erfolg für Baumann gewertet werden, dass die Mannschaft am Ende trotz aller wirtschaftlichen Zwänge ein für Zweitliga-Verhältnisse schlagkräftiges Erscheinungsbild angenommen hat.

Letzteres liegt auch daran, dass zwar talentierte, aber zunehmend demoralisiert wirkende Fußballer den SV Werder verlassen haben. Die Brüder Johannes und Maximilian Eggestein, denen mal eine Zukunft als Vorzeigegesichter des Klubs prophezeit worden war, sind ebenso weitergezogen wie der Mittelfeldmann Kevin Möhwald und Angreifer Milot Rashica. Zwischenzeitlich waren auch mal zwei Spieler in den Streik getreten, um ihre Wechselabsichten zu untermauern: Stürmer Josh Sargent, der schließlich gehen durfte, und Verteidiger Marco Friedl, der weiterhin im Kader steht und hinterher Reue versicherte.

Die insgesamt elf Weggänge stehen letztlich vor allem für die schmerzliche Erkenntnis, dass nichts mehr übrig ist vom bei der Mitgliederversammlung 2019 noch so stolz präsentierten "Werder-Weg": Sportchef Baumann wollte mit Trainer Kohfeldt eine lange Linie zeichnen, dem Verein eine Philosophie verpassen und auch durch sportliche Täler schreiten. Kurz vor dem Abstieg griffen dann aber doch die Mechanismen der Branche. Kohfeldt wurde freigestellt und die Route unwiderruflich verlassen.

Aufsichtsratschef Marco Bode macht Platz für einen "Neuanfang"

Das neue Narrativ heißt "Wiederaufbau statt Wiederaufstieg", wie der neue Werder-Coach Markus Anfang fast mantraartig wiederholt, damit die hohe Erwartungshaltung an der Weser in moderate Bahnen kanalisiert wird. Vor Pfiffen im eigenen Stadion hat das die Mannschaft nicht bewahrt, aber es gibt auch Anhänger, die alle bis zum Transferschluss am 31. August eingesammelten Punkte als Bonuszähler begreifen. In der Tabelle stehen die Bremer derzeit immerhin vor Schalke und dem Hamburger SV, den beiden anderen abgestürzten Institutionen auf der deutschen Fußballlandkarte.

Ein Hauch von Zuversicht ist an die Weser auch deshalb zurückgekehrt, weil der Kader - im Rahmen der Möglichkeiten - nach den Präferenzen von Trainer Anfang zusammengestellt wurde. Die Verteidiger Lars Lukas Mai und Nicolai Rapp kennt er zum Beispiel von einer vorherigen Station in Darmstadt. Und Stürmer Marvin Ducksch, der für 3,5 Millionen aus Hannover verpflichtete Königstransfer, ist eine alte Bekanntschaft aus gemeinsamen Zeiten in Kiel. Unter Anfang wurde Ducksch, 27, damals Zweitliga-Torschützenkönig, bei seinem Debüt für Werder am vergangenen Sonntag traf er zweimal beim 3:0-Heimsieg gegen Hansa Rostock. Danach war im Weserstadion seit langer Zeit mal wieder Applaus zu hören.

Doch das ist der Sport, bei der Mitgliederversammlung geht es auch um Grundsätzliches: Der Aufsichtsratsboss Marco Bode, einst Europapokalstürmer bei Werder, wird seinen Posten nach neun Jahren abgeben und somit den benötigten "Neuanfang" ermöglichen. Überdies sagte Bode im Interview mit dem Kicker, dass der von ihm in der Vergangenheit stets protegierte Sportchef Baumann eine Chance verdiene, "die Sache wiedergutzumachen". Ein erstes Stimmungsbild gibt es dann am Sonntag, wenn das Bremer Scherbengericht tagt.

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