Ein Ass. Wie auch sonst sollte dieser Abend enden im Maracanãzinho in Rio, dem kleinen, 11 500 Zuschauer fassenden Bruder des Maracanã-Stadions. Johannes Tille hatte es in der ehrwürdigen Sporthalle ins Feld Katars geschlagen und den 3:0-Erfolg der deutschen Volleyballer über das Emirat besiegelt. Tille und seine Kollegen waren da längst mit breitem Grinsen übers Feld gelaufen. Denn mit dem gewonnenen zweiten Satz und dem damit verbundenen Punktgewinn war amtlich geworden, was der Auswahl des Deutschen Volleyball-Verbands (DVV) nicht viele zugetraut hatten: die erfolgreiche Olympia-Qualifikation für Paris.
London 2012, das war das bis dato letzte olympische Turnier mit deutschen Volleyballern, Georg Grozer war damals wie heute dabei. Nun sagte der überragende Spieler dieser fast unwirklichen Woche in Brasilien: "Es ist schwer, gerade ein Interview zu geben, ich könnte jede Sekunde losheulen." Die Gruppe um Grozer war einfach über Iran, Kuba, den WM-Dritten Brasilien, Weltmeister Italien, Tschechien und schließlich Katar hinweggefegt wie der Passatwind, der das feuchtheiße Klima in Rio mildert. Als Flow, als Rausch, bezeichneten sie die Tortur, mit sieben Spielen in neun Tagen, die für sie rund 100 Kilometer westlich mit der Vorbereitung in Saquarema begonnen hatte.
Volleyballer Tille im Gespräch:"Ich war nie derjenige, der der Norm entsprach"
Ferdinand Tille, einst bester WM-Libero und eine der prägenden Figuren auf seiner Position, hört auf. Ein Abschiedsgespräch über die Hassliebe zu seiner Rolle, Bruderstolz, Savoir-vivre, die rumänische Trainerschule - und den gelben Schnürsenkel.
Dass die DVV-Auswahl nun nach Paris darf und auf diesem Weg bislang unerreichbare Weltklassegegner mit nicht einmal sonderlich großer Mühe zerschmettert hat, ist aber nicht nur Grozer und dem dahinterstehenden Kollektiv zuzuschreiben. Hinter dem Gefüge, das in Rio mit erfrischender Leichtigkeit auftrat, steht einer, der sich gar nicht so gerne in den Vordergrund spielt: Trainer Michal Winiarski.
"Er ist kein Oberlehrer, keiner, der einen anschreit oder schüttelt."
Der 40-jährige Pole ist noch ein Heranwachsender in seinem Job, die Deutschen sind seine erste Station als Trainer einer Nationalmannschaft. Bis 2017 war er noch selbst Profi und hatte als Spieler fast alles erreicht, was möglich ist: Weltmeister, Europameister, Champions-League-Sieger. Nur bei Olympia reichte es für Winiarski und Polen zweimal nur zu Platz fünf. Seine nicht lang zurückliegende Karriere auf dem Feld hilft ihm nun, als Trainer eine Respektsperson für die Spieler zu sein, aber auf Augenhöhe. "Er ist kein Oberlehrer, keiner, der einen anschreit oder schüttelt. Er ist witzig, holt die Leute ab, trägt seine negativen Gefühle nicht an die Spieler weiter. Michal hat einfach ein Mega-Gefühl für diese Mannschaft", sagt Co-Trainer Thomas Ranner.
In Saquarema ließ Winiarski den Spielern viele Freiheiten, mit einem freien Strandtag zum Beispiel. Er setzte viel auf Regeneration, Athletikeinheiten, gutes Essen, ausreichenden Schlaf; das reine Balltraining stand gar nicht im Fokus. Das können wir doch alles schon, machte Winiarski den Spielern laut Ranner klar, befreite sie von der Monotonie des Trainingsalltags und ließ sie zu einer Gruppe mit flachen Hierarchien und klarer Rollenverteilung verschmelzen, die nur ein Ziel hat: Paris.
Akteuren wie den unersetzbaren Grozer, Zuspieler Lukas Kampa und Außenangreifer Denys Kaliberda, die alle schon 2012 dabei waren, trug Winiarski indes die Aufgabe auf, als Zeitzeugen den Jüngeren das Erlebnis von London zu vermitteln. So entstand wohl dieser Funke, der das Team in Rio durchs Turnier trug.
Mehr als 1500 Länderspiele haben Grozer, Kampa, Kaliberda und die älteren Kollegen inzwischen angehäuft, selten hatten die deutschen Männer eine so erfahrene Mannschaft - in der zugleich die Nachkommen entscheidende Rollen einnehmen: Steller Johannes Tille ersetzte den früh verletzten Kampa in Rio beeindruckend, Blocker Anton Brehme zeigte, warum er nun nach Italien in die attraktivste Liga der Welt wechselt. Viele andere blühten unter Winarski in Rio erst richtig auf, wie die Außenangreifer Moritz Reichert und Ruben Schott. "Wir waren eins", sagte Grozer, inzwischen 38, der nach zwei Jahren Pause nur wegen Paris in die Mannschaft zurückgekehrt war.
Die DVV-Auswahl zeigte in Brasilien im richtigen Moment auch jene Balance, die Winiarski einfordert. Es ist eine Mischung aus taktischer Disziplin, Freude, Respekt voreinander, Ruhe in Schlüsselmomenten und Cleverness im Aufschlag und Angriff. Mögliche Konfliktherde, beispielsweise durch Spieler, die auf die Ersatzbank mussten und zu murren begannen, hat Winiarski früh befriedet. Dessen Assistent Ranner sagt: "Er hat die Gabe, alle mitzunehmen auf seine Reise."
Einmal war dann allerdings doch nur das Trainerteam dabei. Am 27. September, als die Coaches in der Kabine auf Winiarskis Geburtstag angestoßen haben, mit einem kleinen Gläschen Single Malt Whiskey, wie Ranner berichtet. Zwei Tage später begann mit dem Auftaktsieg gegen Iran der sportliche Rausch.