Union im DFB-Pokal-Halbfinale:Der Code von Köpenick

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Jederzeit bereit: Andreas Voglsammer nutzt einen Ausrutscher in St. Paulis Defensive zum zweiten Treffer für Union. (Foto: Tobias Schwarz/AFP)

Auch Zweitligist FC St. Pauli kann die Spielweise des 1. FC Union zwar dechiffrieren - aber den Klub nicht bezwingen. Die Berliner sind nur noch einem Sieg vom Pokalfinale im Olympiastadion entfernt.

Von Javier Cáceres, Berlin

Das Wort "Wysiwyg" ist ein Begriff der Achtzigerjahre, ein Akronym aus der Computerwelt, das bedeutet: "What you see is what you get". In einem weiteren Sinne heißt dies: Das was auf einem Bildschirm erscheint, sieht genauso aus, wie es dann auch auf einem Ausdruck erscheint.

Der Trainer des FC St. Pauli, Timo Schultz, ist kein Kind der 1980er, er wurde bereits 1977 geboren, und nach der 1:2-Pokalniederlage beim 1. FC Union Berlin sagte er auch nicht "Wysiwyg". Hätte vermutlich auch keiner verstanden. Aber was er sagte, das klang so, als könnte man den 1. FC Union des Erstliga-Kollegen Urs Fischer durchaus auch unter "Wysiwyg-Fußball" einordnen: "Bei Union weiß man zu hundert Prozent, was man kriegt", sagte Schultz. Nur sagte er eben auch: "Und trotzdem ist es total schwer, dagegen zu spielen."

Diese Herausforderung im Viertelfinalspiel des DFB-Pokals kommentierte Schulz mit Anerkennung "Ich mag es, wenn Mannschaften wissen, was sie können, und auch wissen, was sie nicht können", sagte der Trainer des Hamburger Zweitligisten - und legte eine Analyse vor, die einer Decodierung des Spiels der Unioner nahekam.

Dass die Köpenicker sich des Stilmittels des langen Balles bedienen, haben schon so manche erkannt (und auch beklagt), doch Schultz sah darin einen klaren Plan. Der 1. FC Union minimierte damit das Risiko des Ballverlustes, das er auch dadurch zu vermeiden versucht, indem er immer vier, fünf oder gar sechs Spieler hinter dem Ball agieren lässt, teilweise sogar bei sogenannten Standardsituationen.

"Es gibt viele Mannschaften, die spielen zwischen den Sechzehnern super. Aber hinten kassieren sie leicht Tore, und vorne sind sie ungefährlich", sagte Schultz weiter. "Bei Union, würde ich behaupten, ist es genau umgekehrt. Die sind in beiden Sechzehnern unfassbar präsent. Allein ihre Physis, ihre Abläufe, ihre Klarheit im Spiel, das ist schon gut. Nichts was einen überrascht, aber etwas, das man sehr, sehr schwer verteidigen kann", berichtete Schultz.

Erster Pokalheimsieg seit 2001

Gemessen an dieser klar umrissenen Problematik, war der Auftritt des FC St. Pauli bemerkenswert. In einem Spiel, das nicht unbedingt den höchsten Maßstäben der Fußball-Ästhetik gerecht wurde, schlugen sich die Hamburger besser als mancher Erstligist. Allzu viele deutliche Chancen ließen sie bei ihrem Besuch in der Alten Försterei gar nicht zu. Am Ende war es sogar so, dass die Unioner trotz deutlicher Überlegenheit der Kollaboration der Gäste bedurften, um den ersten Pokalheimsieg seit 2001 zu feiern - dem Jahr der übrigens ersten und bislang einzigen DFB-Pokalfinalteilnahme des FDBG-Pokalsiegers von 1968.

St. Pauli war in der 21. Minute durch einen Freistoß von Daniel Kofi Kyereh in Führung gegangen. Dann aber leistete sich das Zweitligateam zwei unglückliche Schnitzer zu viel. Erst rutschte Torwart Smarsch weg und ermöglichte den Ausgleichstreffer von Sheraldo Becker (45.), weil er den Ball im Angesicht von Taiwo Awoniyi nicht unter Kontrolle bekam. Dann glitt Mitte der zweiten Halbzeit auch Innenverteidiger Jakov Medic in Nähe des eigenen Strafraums aus. Ein lang aus der eigenen Hälfte nach vorn geschlagener Ball landete deshalb beim eingewechselten Andreas Voglsammer, der souverän vollendete (75.). Voglsammer setzte kurz vor Schluss noch einen Ball an den linken Pfosten und beschwor einen letzten Angriff St. Paulis herauf. Doch es blieb beim Sieg.

"Schade, dass die Reise zu Ende ist, Union hätte bei uns noch gut reingepasst, unmöglich war es nicht, aber wir waren nicht gut genug", sagte Schultz in Anspielung an den sensationellen Achtelfinalsieg im Januar gegen Borussia Dortmund. Vorwürfe machte Schultz keinem seiner beiden Pechvögel. Im Gegenteil. Auch die mögliche Debatte über das Schuhwerk von Medic beendete er sofort: "Längere Stollen als Jakov kann man gar nicht tragen." Ohnehin war er bemüht, die Traurigkeit seines Kaders in Grenzen zu halten. St. Pauli ist derzeit Tabellendritter der zweiten Liga und hat damit gute Aufstiegschancen. Union-Trainer Fischer sagte, er habe "so ein Bauchgefühl", dass es für St. Pauli diesmal reichen werde.

Berliner Aussichten im Mai

Was sein eigenes Team betrifft, so gab sich Fischer überaus zufrieden. Vor allem, weil es gegen den Rückstand aufbegehrte. "Die Haltung der Mannschaft, gegen Widerstände anzukämpfen, war wirklich grandios", erklärte er.

Nun ist das Pokalfinale, das traditionell im Berliner Olympiastadion stattfindet, nur noch einen Sieg entfernt. So weit denkt Urs Fischer nicht, der Berliner Boulevard hingegen schon. Schon deshalb, weil das Endspiel in der Heimstatt des aktuell abstiegsbedrohten Erstligisten Hertha BSC stattfindet. "Machen statt quatschen: Union lebt jetzt den Pokal-Traum von Hertha BSC!", schrieb der Berliner Kurier, und die Bild-Zeitung träumt schon vom Doppel-Drama. Denn zwei Tage vor einem möglichen Pokalfinale mit Union am 21. Mai steigt möglicherweise ebenfalls im Olympiastadion das Relegationsspiel der Hertha - wenn sie die laufende Saison als Tabellen-16. abschließen sollte. Ob der Rasen das aushalten würde, darf erfahrungsgemäß bezweifelt werden. Berlin ist ja immer noch Berlin.

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