Union gegen Hertha:Fußballvölker der Welt - schaut auf diese Stadt

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Zuschauer aus beiden Teilen Berlins kommen 1990 ins Olympiastadion zum Freundschaftsspiel zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union Berlin. (Foto: dpa)
  • An diesem Samstag treffen sich Union und Hertha zum ersten Berliner Bundesliga-Derby.
  • Die beiden Klubs verband zu DDR-BRD-Zeiten so etwas wie eine Freundschaft. Nun müssen sie ihre Rivalität erst finden.

Von Javier Cáceres, Berlin

Das Spiel kommt spät, in mancherlei Hinsicht sogar zu spät. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, es nicht Anfang November auszutragen. Sondern am letzten August-Wochenende, als in aller Welt "Derbys" oder "Clásicos", wie sie in Lateinamerika genannt werden, ausgetragen wurden.

Der FC Arsenal und Tottenham Hotspur trafen sich zum North-London-Derby; in Glasgow stieg das Old Firm zwischen den Rangers und Celtic; in Buenos Aires feierten River Plate und Boca Juniors den x-ten Súper-Clásico, in Italiens Hauptstadt begingen Lazio Rom und die AS Roma das Derby della capitale, in Wien stritten Austria und Rapid - und in Montevideo legten Nacional und Peñarol das älteste nicht-britische Derby der Welt neu auf, erstmals ausgetragen im Jahr 1900.

Oder wäre das zu viel der Begleitung gewesen für Union gegen Hertha BSC, das jüngste aller Lokalderbys? Obwohl man ein paar subordinierte Duelle gar nicht eingerechnet hat? Das im Baskenland zwischen Athletic Bilbao und Real Sociedad zum Beispiel, oder das Nord-Süd-Derby Italiens zwischen Juventus Turin und Neapel. Schon gar nicht die Klassiker Kroatiens (Hajduk Split gegen Dinamo Zagreb) und Kolumbiens (Atlético Nacional gegen Millonarios Bogotá), die ebenfalls am letzten August-Wochenende stattfanden? Vielleicht muss es auch so sein, dass das deutsche Hauptstadtduell zwischen dem 1. FC Union Berlin und Hertha BSC an diesem Samstag (18.30 Uhr) weltweit exklusive Aufmerksamkeit erhält - und ausgerechnet kurz vor dem 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer aufgenommen wird in den Kreis der weltweit beachteten Derbys? Frei nach dem ehemaligen Bürgermeister Ernst Reuter: Fußballvölker der Welt - schaut auf diese Stadt!

Ganze Bücher sind über Derbys geschrieben worden. Das umfangreichste dürfte "Football Rivalries" des Italieners Vincenzo Paliotto von 2012 sein. Er führt den Ursprung des Begriffs Derby auf ein kurioses Duell in der gleichnamigen Stadt in den East Midlands von England zurück, das ab 1800 zur Austragung kam: "Animiert durch eine unerreichbare Rivalität fand an den letzten drei Tagen des Karnevals eine außerordentlich originelle und endlose Partie rudimentären Fußballs zwischen zwei benachbarten Gemeinden statt: St. Peter's und All Saints."

Dieses Kirchturm-Duell sei 1846 letztmals ausgetragen worden, schreibt Paliotto - zu einer Zeit also, da weder Hertha (1892) noch der Vorläufer des 1966 gegründeten 1. FC Union existierten, und sich in Berlin nicht mal ansatzweise abzeichnete, was ein Derby definiert: eine in offene Feindschaft lappende Rivalität, die politische, religiöse oder wirtschaftliche Wurzeln haben kann und in voller Blüte zu einem Kampf um Hegemonie auf Zeit wird. Neckereien gibt es da, Häme, Hohn, Demütigungen, Tragik - und Gewalt bis in den Tod mitunter auch. Vor allem aber, je nach Ergebnis, ruinöse oder erhebende Auswirkungen auf die Existenz der Beteiligten. Allerdings: Auch Feindschaften müssen, ehe sie gepflegt werden können, erst einmal entstehen. Das ist im Fall von Hertha und Union nicht ganz so einfach. Oder vielleicht doch? Denn Unioner und Herthaner, die sich jetzt im Stadion An der Alten Försterei begegnen, haben einander mal geliebt.

"Es gibt nur zwei Meister an der Spree - Union und Hertha BSC!", lautete ein Union-Schlachtruf aus der Zeit vor 1989. Das war eine an den BFC Dynamo gerichtete Sottise, den Derby-Rivalen von Union aus DDR-Tagen. Zu einem Spiel der Hertha bei Dukla Prag 1979 brachen zahlreiche Unioner auf, um beider Klubnamen, Hertha und Union, auf "Nation" zu reimen. Dieser Schlachtruf sei "zum gesamtdeutschen Fanal" geworden, schrieben die Leiter vom Zentrum Deutsche Sportgeschichte noch 2012 im Tagesspiegel. Vor diesem Hintergrund war es fast zwingend, dass es im Januar 1990, noch vor der letzten DDR-Volkskammerwahl, zum "Wiedervereinigungsspiel" zwischen Hertha und Union im Olympiastadion kam, vor 50 000 Menschen, die entweder fünf Mark West oder fünf Mark Ost zahlten, je nach Herkunft.

Danach gab es noch vier Zweitliga-Derbys zwischen Hertha und Union, die ohne größere Vorkommnisse über die Bühne gingen, zuletzt 2012/13. Für Verwunderung sorgte allenfalls, dass Union-Profi Christopher Quiring nach dem verlorenen Derby 2012 über Brechreiz klagte: "Wenn ich die Wessis jubeln sehe, könnte ich kotzen." Doch insgesamt wirkte es aufgesetzt, als Union-Präsident Dirk Zingler nach dem Aufstieg im Sommer mit Blick auf Hertha einen "Klassenkampf" ausrief - und als Echo hörte, man werde zeigen, wer "die Nummer eins" sei in der Stadt, in der Tabelle und in den Derbys, Amen.

Natürlich repräsentieren die Klubs unterschiedliche Sozialisationen und Ansprüche. Da Union, das sich zwar auch eine spätkapitalistische Heuschrecke als Sponsor leistet, sich aber eine Dissidentenkultur bewahrt hat. Dort die stets gernegroße Hertha, die nun den Investor Lars Windhorst ins Boot holte und ein "Big-City-Klub" sein will. Nur: Seit Jahren müht sich Berlin, Trennendes zu überwinden, zusammenzuwachsen, zu zeigen, dass die 3,7-Milllionen-Einwohner-Stadt groß genug ist, um alles doppelt und dreifach auszuhalten: Zoos, Flughäfen, Opernhäuser - warum sollte da ausgerechnet der Fußball zwischen den Blauen und den Roten neue Gräben aufreißen? Kann passieren. Die Berliner Polizei jedenfalls stellt Fans aus beiden Lagern nach, führt mit ihnen so genannte Gefährder-Ansprachen. Für Aufregung sorgte ferner das Geraune um einen aufgebrochenen Container, in dem Utensilien von Union-Fans lagerten. Anzeige wurde bislang nicht erstattet, auch bei Union weiß man offiziell von nichts. Ansonsten hatte sich das Stadtbild vor dem Derby-Anpfiff ein wenig verändert. Denn Unioner und Herthaner lieferten sich eine Schlacht an den Stromkästen. "Berlin sieht rot", steht auf den Plakaten der Köpenicker; "Hertha steht für ganz Berlin", lautet das Motto auf denen der Charlottenburger. Union-Kapitän Christopher Trimmel wohnt in Berlin-Mitte und erzählt, dass die blauen Plakate in seiner Nachbarschaft verschwunden sind ...

Aus seinem Munde klingt das belustigt - wozu man wissen muss, dass Trimmel Österreicher ist, einst Spieler bei Rapid war und die Wiener Bezirke, die von Austria-Fans kontrolliert wurden, für ihn No-Go-Areas waren. Ein Wiener Derby sei mal wegen Ausschreitungen abgebrochen und in den Katakomben mit nackten Fäusten fortgesetzt worden, berichtete Trimmel nun. Auch Unions Schweizer Trainer Urs Fischer kennt ein Derby mit rauen Sitten. Er gilt als eine Legende des FC Zürich und ist daher bei Grasshopper-Fans nicht wohlgelitten. In Berlin aber, der einstigen Mauerstadt, genießt Fischer eine Reisefreiheit, die er in Zürich so nicht kennenlernte. Am Tag nach Unions Achtelfinaleinzug im Pokal (3:1 in Freiburg) fuhr Fischer am Mittwoch in das von Köpenick 31 Kilometer entfernte Olympiastadion, um die Hertha beim Pokalsieg gegen Dynamo Dresden (8:7 nach Elfmeterschießen) auszuspionieren. Fischer wurde natürlich erkannt, er nahm sogar Glückwünsche für den Aufstieg entgegen und erfüllte Fans des Gegners einen besonderen Wunsch: "Sie wollten Selfies mit mir."

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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