Urs Fischer, der Trainer des 1. FC Union Berlin, stand am Pult des Pressesaals im Stadion An der Alten Försterei, und er schaute, als würde er nicht ganz begreifen, welche Frage man ihm da stellte.
Genau genommen verriet sein Blick nichts Eindeutiges. Was es für ihn persönlich bedeute, in seinem ersten Jahr bei Union gleich für den größten Erfolg der Klubgeschichte gesorgt zu haben, lautete die Frage - denn ein Bundesliga-Aufstieg überträfe ja sogar Unions Sieg im FDGB-Pokal 1968 und die Teilnahme am DFB-Pokal-Finale 2001. Fischer zögerte einen Moment. "Ich sehe das nicht als Erfolg an", sagte er schließlich mit dieser Stimme, mit der er auch als Synchronsprecher einer Heidi-Verfilmung anfangen könnte. Bilanz wolle er erst nach dem letzten Spieltag am Sonntag ziehen. Also erst, wenn nach Unions Spiel beim VfL Bochum und dem Fernduell mit dem Tabellenzweiten SC Paderborn (bei Dynamo Dresden) feststeht, ob Union direkt aufsteigt - oder in der Relegation gegen den VfB Stuttgart antreten muss, den Tabellen-16. der Bundesliga.
"Alles kann, nichts muss!"
Urs Fischers Ruhe, sie passt gut zum 1. FC Union und zu dessen manchmal rätselhafter Stimmungslage. Vor dem Heimspiel gegen Absteiger Magdeburg am vergangenen Sonntag (3:0) hängten Fans ein Transparent auf, das die gelassene Grundeinstellung des Vereins zum Thema Aufstieg zum Ausdruck brachte: "Alles kann, nichts muss!" In Berliner Medien fand man zuletzt aber auch Berichte darüber, dass es eine "AJ"-Bewegung gebe, einen Fan-Sektor, der sich dem Motto "Aufstieg Jetzt!" verschrieben habe. Dementgegen gibt es allerdings auch eine Gruppe von Anhängern, die jetzt nicht und schon gar nicht um jeden Preis nach oben wollen, weil sich ihnen eine Zeile aus der Vereinshymne, die von Punksängerin Nina Hagen intoniert wurde, in die Seele eingebrannt hat: "Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union! Eisern Union ...!"
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Dass es Union-Fans gibt, die im Falle des Aufstiegs Angst hätten, "dass du dich komplett entfremdest", das weiß auch Oliver Ruhnert, der Geschäftsführer Profifußball. Und auch wenn er ein Zugereister ist: Ihm ist bewusst, dass Union ein Klub ist, in dessen Stadion der Sprecher manchmal unter Tränen in der Halbzeit Meldungen zu Trauerfällen aus der Union-Familie auf den Rängen verliest; ein Klub, dessen Stadion fast ausschließlich aus Stehplätzen besteht und wo es noch ein steinernes Büdchen mit einer handbedienten Anzeigetafel gibt - wie wohl nirgends sonst im durchgestylten Profifußball. Bier und Bratwurst vermengen sich hier zu einem Duft, der nach früher riecht. Nach Ewigkeit.
Das schürt Aufmerksamkeit, die sich ummünzen lässt. Ein Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach, der im deutschen Fußball nur noch den DFB, den FC Bayern und den HSV ausstattet, wird ab 2020 Union Berlin bedienen. Aber die Aufmerksamkeit hat auch ihren Preis. In den vergangenen Jahren sind viele Fans aus fernen Ländern via Billigflieger nach Köpenick gereist, weil sie bei Union noch eine Authentizität vorfinden, die es im Fußball ihrer Ländern nicht mehr gibt, oder weil sie sich daheim den Stadionbesuch nicht mehr leisten können - oder beides.
Sollte Union jedoch tatsächlich aufsteigen, müsste gemäß den Liga-Bestimmungen das Sitzplatzkontingent aufgestockt werden - mit Auswirkungen auf das Preisniveau und auf den Köpenicker Charakter des Vereins. Genau das ist jene Angst, die in den Baumwipfeln rund um die Alte Försterei hängt: dass der Klub einer Gentrifizierung anheimfällt, die den Rest der Hauptstadt längst in ihren Klauen hat. Doch vielleicht muss Ruhnert, der Manager, auch in dieser Hinsicht als Glücksfall für Union bezeichnet werden, denn für soziale Befindlichkeiten hat er eine Antenne. Er ist seit Jahren Fraktionschef der Linken im Stadtrat seiner Heimatstadt Iserlohn, und es klingt sehr glaubwürdig, wenn er ohne jeden selbstreferenziellen Unterton sagt, dass diese Entfremdung nicht stattfinden werde: "Union hat ein so gutes Management, dass das nicht passieren wird."
Ein Glücksfall für Union war Ruhnert jedenfalls schon in sportlicher Hinsicht. Vor zwei Jahren stand der Verein eine Zeit lang auf dem ersten Platz der zweiten Liga und wurde am Ende nur Vierter; im Jahr darauf, als Ruhnert zunächst als Chefscout angeheuert wurde, war im und rund um den Klub eine Dringlichkeit zu spüren, die lautete: Jetzt muss der Aufstieg aber wirklich her! Die zuvor ausgegebene, immer noch geltende Klubdoktrin, wonach man dauerhaft zu den besten 25 Klubs in Deutschland zählen möchte, also im besten Fall stabil zwischen erster und zweiter Liga hin und her pendeln will, wurde abgelöst von Nervosität. Der neue Aufstiegsdruck steckte die Mannschaft an und verursachte Wirren, die Trainerwechsel zur Folge hatten, das Team sogar in den Abstiegskampf und den Klub in Existenzängste stürzte.
Fast schon revolutionäre personelle Umwälzung
Im Sommer 2018 stieg Ruhnert dann in der Hierarchie auf - und moderierte eine fast schon revolutionäre personelle Umwälzung. Stammspieler gingen und wurden durch umsichtig eingekaufte Zugänge ersetzt. Vor allem aber holte Ruhnert diesen Trainer Fischer aus der Schweiz.
"Ich wollte einen deutschsprachigen Trainer, das war mir sehr wichtig", sagt Ruhnert, "und ich wollte verhindern, dass die Jungs ihn direkt kategorisieren. Dass sie, sobald er benannt ist, mit Freunden und Kollegen telefonieren und sagen: 'Das ist der und der - und der ist so und so.'" Der Coup mit dem unbekannten Coach gelang. Als die Personalie bekannt wurde, habe das Team "mit einem Wer und mit einem Fragezeichen" reagiert, sagt Ruhnert.
Mittlerweile kennen die Spieler Fischer als einen Cheftrainer, "der keine Show braucht, eine klare Ansprache und einen klaren Plan im Spiel hat, aufs Team setzt und versucht, jeden mitzunehmen und besser zu machen", sagt Ruhnert. Das Resultat: Union ist nun eine Mannschaft wie ein Ebenbild des Ex-Profis Urs Fischer: nicht immer glänzend, aber arbeitsam und stabil. Union führt in der Heimtabelle der zweiten Liga und steht in der Auswärtstabelle im Mittelfeld. Das Team lässt sich nie und nirgends aus der Ruhe bringen - wie Fischer, der nun das Finale der Saison frei von unbedingtem Druck, aber doch angespannt angeht.
"Er kennt Stress, er kennt große Stadien, er kennt Druck, er hat Dinge erlebt. Das passt zu einer nicht ganz unaufgeregten Stadt wie Berlin", findet Ruhnert. Urs Fischer führte den FC Thun und den FC Zürich einst in die Europa League, er wurde als Trainer des FC Basel Double-Sieger in der Schweiz, ein weiteres Jahr Meister und er spielte in der Champions League.
Nun führt er womöglich den 1. FC Union in die erste Liga. Einen Aufstieg hat er bereits hinter sich: als Profi mit dem FC St. Gallen, mit dem er zuvor abgestiegen war. "Mehr Freude gibt's nicht", sagte Fischer dieser Tage, und er schob noch hinterher: Bitte nicht falsch verstehen, mehr Freude heiße: "auf den Fußball bezogen!"