Krise in Berlin:Union stellt atmosphärische Störungen offen zur Schau

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Union Berlins Angreifer David Datro Fofana lässt auf dem Platz erst seine Gegner stehen, bei der Auswechslung aber auch seinen Trainer Urs Fischer. (Foto: Matthias Koch/Imago)

Die Affären um Leonardo Bonucci und David Fofana verstellen fast den Blick auf das Positive nach dem 0:1 gegen Neapel: Die Berliner Fußballer zeigen bei ihrer neunten Niederlage in Serie vieles von dem, was sie in der Vergangenheit stark gemacht hat.

Von Javier Cáceres, Berlin

Angst ist kein Begriff, den ein Trainer der Società Sportiva Calcio Napoli in seinem Wortschatz führen darf. Aber richtig wohl war Rudi Garcia nicht, als er die Reise nach Berlin antrat, um dort am Dienstag beim 1. FC Union in der Champions League anzutreten, und der Grund dafür war eine Frage der statistischen Wahrscheinlichkeit.

Es liege auf der Hand, argumentierte Garcia nach der Partie, dass eine Mannschaft, die so viele Niederlagen am Stück gesammelt habe wie Union Berlin zuletzt, zwangsläufig auch mal wieder gewinnen müsse. Am Ende durfte Garcia aufatmen. Napoli fügte Union die neunte Niederlage in Serie zu, obwohl der italienische Meister bloß einen einzigen Schuss aufs Tor abgab und durch Giacomo Raspadori, Backup für den verletzungsbedingt abwesenden Stürmer Victor Osimhen, das 1:0 erzielte (65.). Ob ihm das nicht zynisch vorkomme, fragte ein italienischer Journalist den Union-Trainer Urs Fischer. Und siehe, von Urteilen hat dieser Mann schon Ahnung, ausweislich seiner Visitenkarte ist der Reporter auch Technischer Berater am Gericht zu Neapel.

Union in der Champions League
:Schon wieder Prügel

Auch gegen den italienischen Meister aus Neapel setzt sich die Negativserie des 1. FC Union Berlin fort: Nach einer lange Zeit ansprechenden Leistung verlieren die Köpenicker mit 0:1 - und sind nach drei Champions-League-Spielen Letzter der Gruppe C.

Von Javier Cáceres

Seine Frage an den Signore Fischer umfasste auch die Feststellung, dass dessen Mannschaft "gesund" gewirkt habe. Gar nicht so krank wie ein Team also, das punktlos Letzter der Gruppe C ist und in Sachen Pleiten als manischer Wiederholungstäter gelten muss. Und ja, es war auch so. "Die Mannschaft hat ein tolles Spiel gemacht", die Niederlage sei daher "brutal", sagte Urs Fischer. Diese Bemerkung entbehrte jeder Schönfärberei und reihte die Partie in die bisherigen Champions-League-Spiele der Köpenicker ein.

Zumindest in den drei Spielen in Europas Premium-Wettbewerb drängte sich im Nachhinein stets die Frage auf, ob die Nachbarn von Hertha BSC in Köpenick sieben Katzenkadaver im Rasen verbuddelt haben - so wie es einst die Fans von Independiente Avellaneda (Argentinien) bei ihren Nachbarn von Racing de Avellaneda mal taten, auf dass Racing vom Pech verfolgt werde (klappte übrigens herausragend).

Bei Real Madrid und gegen Braga verlor Union jeweils in der 94. Minute, gegen Neapel "lernte Union einen neuen Fluch kennen: Wie man durch nur einen Schuss verliert", schrieb die Gazzetta dello Sport am Mittwoch. Das Tor musste zwar nominell Raspadori zugeschrieben werden. Im Grunde aber ging es auf den Deckel des spektakulären Khvicha Kvaratskhelia, dem der Corriere dello Sport attestierte, "das Licht, die Luft, das Wasser, ein Geschenk der Natur" zu sein, das sich "weigert, sich mit Normalität zufriedenzugeben, wenn ein Spiel schmutzig, hässlich und theoretisch schlecht ist, und wie ein blauer Prinz ein Märchen zeichnet". Übersetzt bedeutet das: Der Junge aus Georgien kann recht spektakulär den Ball führen.

Neben dem alten Union betritt auch ein neues Union die Bühne

Wobei ihm eine Reihe von defensiven Unzulänglichkeiten der Unioner zupass kamen. Stürmer David Fofana, von dem noch die Rede sein wird, ging nach einem ungenauen Anspiel nicht richtig hin und verlor den Ball, Danilho Doekhi und Diogo Leite bekamen ihn am Strafraum nicht geklärt, und als er dann auf der linken Seite wieder bei Kvaratskhelia landete, mied Union-Kapitän Christopher Trimmel ein allzu resolutes Eingreifen. Denn err hatte schon in der zehnten Minute bei der ersten Begegnung mit "Kvaradona" Gelb gesehen. Der Prinz aus Georgien legte auf Raspadori ab, dieser schoss ein und erfüllte sich damit nicht nur "einen Traum": am Ort des italienischen Weltmeisterschaftsfinalsiegs von 2006 ein Tor erzielt zu haben. Sondern sorgte auch fast dafür, dass in Berlin an diesem Abend unbemerkt blieb, dass viel vom alten Union zu sehen war.

Fischer freute sich zu Recht daran, wie gut, solidarisch, leidenschaftlich und kollektiv sein Team verteidigt hatte, und auch daran, dass in Abwehrchef Robin Knoche und Mittelfeldmann Rani Khedira zwei Spieler auf dem Platz standen, "die enorm wichtig für uns sind", weil sie die Automatismen und Abläufe nicht nur kennen, sondern nachgerade verkörpern. Sie hatten zuletzt verletzungsbedingt gefehlt. Aber neben dem alten Union betrat an diesem Abend auch ein neues Union die Bühne: ein Union der offen zur Schau gestellten atmosphärischen Störungen.

Gegen Neapel musste eine Jacke Leonardo Bonucci warmhalten, sportliche Aktivität konnte ihm dabei nicht helfen - er saß 90 Minuten nur auf der Bank. (Foto: Maja Hitij/Getty)

Den ersten Akt stellte eine bereits vor der Partie kursierende Mitteilung des Transferexperten Fabrizio Romano dar; sie besagte, Unions italienischer Zugang Leonardo Bonucci, 36, wolle Fischer zur Rede stellen, weil er, Bonucci, ausgerechnet gegen ein italienisches Team in der Champions League nicht spielen durfte. Ob Bonucci selbst oder dessen Umfeld dies durchstach, ob die SSC Neapel Desinformation betrieb, um Union zu zersetzen, oder aber der Stadtheilige San Gennaro konsultiert wurde, war offen. Ebenso, ob Bonuccis nächtlicher Sozialnetzwerkeintrag ("an erster Stelle das Team") als aufrichtiges Dementi gewertet werden darf. Aber dann war da noch der Fall Fofana.

Der Ivorer, 20, hatte auf dem Rasen brilliert, insbesondere bei dem elektrisierenden Solo, das dem wegen Abseits annullierten Tor von Janik Haberer (24.) vorgeschaltet war. Als Urs Fischer Fofana auswechselte, leistete sich der Leihspieler vom FC Chelsea eine Respektlosigkeit, die man so selten gesehen hat, schon gar nicht in Köpenick. Fofana verweigerte bei seiner Auswechslung Fischer nicht bloß die Hand, er stieß ihn fast von sich. Fischer schrie empört, hernach saß Fofana wie ein Häufchen Elend auf der Bank. Spät in der Nacht bat Fofana öffentlich um Vergebung, um den Rapport bei Fischer wird er nicht herumkommen. "Es wird ein Gespräch geben", sagte der Schweizer, und wie er das sagte, war eine Einladung, darauf zu wetten, dass sich Fofana auf eine "Fön"-Ansprache im Stile von Alex Ferguson gefasst machen darf; den früheren Manchester-United-Coach nannte man aus guten Gründen den "Hairdryer".

Worauf man ansonsten noch wetten kann? Dass ein Tag weniger fehlt, bis Union wieder ein Spiel gewinnt, womöglich am Samstag bei Werder Bremen. Und das nicht nur wegen der von Garcia bemühten Empirie. Sondern auch wegen der von Fischer proklamierten Tugenden, die Union zurückeroberte.

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