TSV 1860 München:Die Wundertüte von Bern

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Arbeiterkind im Anzug: Der in der Schweiz aufgewachsene Italiener Maurizio Jacobacci, 60, hat auch abseits des Fußballs eine spannende Vita aufzuweisen. (Foto: Vedran Galijas/Just Pictures/Imago)

In der Trainervita von Maurizio Jacobacci reihten sich viele kurze Episoden aneinander. Dabei konnte er teils tatsächlich die Stimmung heben und Feuer entfachen.

Von Christoph Leischwitz

Über Geld redet man nicht, heißt es, das ist in diesem Fall aber wichtig. Also: Als Maurizio Jacobacci im Jahr 2003 seinen ersten Posten als Cheftrainer antrat, arbeitete er laut Schweizer Medienberichten für ein deutlich niedrigeres Salär als sein Vorgänger; sein Arbeitgeber, der Zweitligist SR Delémont, sparte sich über das Jahr 40 000 Franken. Gut möglich, dass 20 Jahre später 1860-Geschäftsführer Günther Gorenzel das von ihm selbst oft beschworene "Anforderungsprofil" an den neuen Trainer vor allem dahingehend geprüft hat, ob er noch einen findet, der Jacobacci finanziell unterbietet - und zudem vielleicht die dritte deutsche Liga ein bisschen besser kennt als der Italiener, der die meiste Zeit seines Lebens in der Schweiz spielte und als Trainer fungierte.

Gorenzel fand offenbar niemanden und gab am Sonntag, nach 26 Tagen Interimstätigkeit ohne einen Sieg, den Wunschkandidat der Investorenseite als Nachfolger von Michael Köllner bekannt. Jacobacci ist durchaus ein erfahrener Feuerwehrmann, er gehört sozusagen als Fußballtrainer zur erlauchten Zunft der Berufsfeuerwehr. Und er dürfte ziemlich genau wissen, dass bei 1860 München nicht nur im Fanblock, sondern auch verbal immer wieder mit Pyrotechnik zu rechnen ist.

Über das rein sportliche Anforderungsprofil wurde in all jener Zeit auffällig wenig gesprochen, der Neue scheint diesbezüglich aber auch sehr flexibel zu sein. Jacobaccis Mannschaften spielten oft mit einer Fünferkette, eigentlich erlebten sie mit ihm aber alle gängigen Formationen. Was nahelegt, dass Jacobacci nicht wegen eines konkreten Spielstils nach München geholt wurde. Der Neue habe seine "Vorstellungen und Lösungsansätze für den bestehenden Kader" klar umrissen, erklärt Gorenzel nun. "Wir erwarten uns von ihm einen neuen Impuls auf jeden einzelnen Spieler." Und die Hoffnung auf solche Impulse habe dann auch den Ausschlag gegeben, "auf Maurizio zu setzen und den Cheftrainer-Sessel nicht intern zu vergeben". Co-Trainer Stefan Reisinger wäre sicherlich eine noch kostengünstigere Variante gewesen.

Jacobacci hat in der Tat schon viel erlebt. Als Spieler und trotz 1,70 Meter Körpergröße passabler Angreifer wurde er einmal Schweizer Meister mit Xamax Neuchatel, im Uefa-Pokal schoss er mal ein Tor gegen Real Madrid und spielte gegen Maradonas SSC Neapel.

Er wurde von einer Schweizer Zeitung als "selbstverliebt", von einer anderen als "Hansdampf" bezeichnet

Auch wenn das nicht zum Anforderungsprofil gehörte: Den Fans wird gut gefallen, dass Jacobacci vor knapp sieben Wochen seinen 60. Geburtstag feierte. Zu diesem Zeitpunkt, am 11. Januar, war er noch Trainer in Tunesien, in der Küstenstadt Sfax. Die Sechziger waren da gerade aus ihrem Trainingslager in der Türkei zurückgekehrt, spätestens seit dieser Zeit herrscht schlechte Stimmung. Von Jacobacci ist häufig zu lesen, dass er als Neuankömmling tatsächlich Feuer entfachen und die Stimmung heben konnte. Nur eben in höchst unterschiedlicher Dauer.

In Sfax zum Beispiel durfte er nur acht Spiele lang Trainer sein. Mit ihm scheint deshalb alles möglich: Ein ganz kurzfristiges Engagement aufgrund von "Missverständnissen", wie er zum Beispiel seine zweieinhalb Monate beim FC Wacker Innsbruck selbst einmal umschrieb. Dort war er 2016, also rund vier Jahre vor dem Ex-Löwen-Trainer Daniel Bierofka. In den vergangenen Jahren reihten sich bei Jacobacci fast nur noch kurze Episoden aneinander. Bei seinen vergangenen acht (!) Stationen zusammen hat er kaum mehr Spiele als Cheftrainer absolviert (153) als zuvor beim FC Schaffhausen (150), wo er von 2012 bis 2016 arbeitete.

Der weitere Verlauf der Löwen-Saison mit Jacobacci ist schon deshalb so schwer vorherzusagen, weil dieser rein sportlich die reinste Wundertüte ist. Die Meinungen zu seinem Trainertalent gehen, je nachdem, wen man fragt, sehr weit auseinander. Ansonsten scheint er eine Person voller Widersprüche zu sein. Einerseits passt er als Arbeiterkind sehr gut zu 1860 München: Seine Kindheit erlebte er als Sohn einer süditalienischen Familie in einem Quartier in Bern, vor der Tür roch es nach der Schokolade aus der Toblerone-Fabrik, und der Papa nahm den fußballbegeisterten Jungen regelmäßig mit zu den Spielen von Esperia Bern. Heute trägt er andererseits gerne einen guten Anzug, leistete sich auch einmal einen Porsche und wurde von einer Schweizer Zeitung als "selbstverliebt", von einer anderen als "Hansdampf" bezeichnet. Er wurde früh Vater und mit 55 schon Opa, doch sesshaft wurde er nie. Er liebt James Bond, Thriller und Netflix-Serien. Er ist schon seit Längerem mit Ilona Hug liiert, der Witwe der Schweizerischen Kampfsport-Legende Andy Hug, die in Los Angeles ihre zweite Heimat hat und in der Schweiz zur Prominenz zählt.

Jacobacci übernimmt die Sechziger mit 14 Punkten Vorsprung auf die Abstiegsplätze und nur fünf Punkten Rückstand auf den Aufstiegs-Relegationsplatz. Mehrere Aufstiegsaspiranten ließen am Wochenende Punkte liegen. Es wird bei seiner offiziellen Vorstellung am Montagvormittag interessant sein zu hören, welche Ziele er sich und seinem Team setzt. Oben anzugreifen ist bei Sechzig kein gutes Omen: Als im Jahr 2017 der Portugiese Vitor Pereira kam, damals ebenfalls auf Vorschlag der international denkenden Investorenseite, sagte dieser, die Mannschaft "to the top" bringen zu wollen. Dann stieg sie von der zweiten in die vierte Liga ab.

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