Die Perfektion existiert nicht. Weder im Fußball, noch im Leben. Doch wenn ihr in den letzten Jahren jemand nahegekommen war, dann Toni Kroos. Egal, ob er für die deutsche Nationalmannschaft spielte oder für seinen Klub Real Madrid - stets spuckten die Statistikdienste Höchstwerte für den Mann aus Greifswald aus. Es dürfte schwierig werden, ein Spiel zu finden, in dem Kroos, 28, auf eine Quote gelungener Pässe von weniger als 90 Prozent verweisen kann. Auch am Samstag lag er voll im Trend. Zur Halbzeit des Gruppenspiels gegen Schweden hatte Kroos eine Passquote von 95 Prozent. Allein: Unter den fünf Prozent, die ihm fehlten, um die hundert vollzumachen, war eben auch jener fatale Ball, der in den Füßen des Schweden Marcus Berg landete. Es schien, als würde er etwas einleiten, was als das Desaster von Sotschi in die Geschichtsbücher eingehen würde. Doch dann erzielte er in der Nachspielzeit einen Treffer von atemberaubender Schönheit, der Deutschland einen unwahrscheinlichen 2:1-Sieg sicherte, der die Chance aufs Achtelfinale wahrt.
Werner war am Strafraumeck gefoult worden, und Kroos und Marco Reus debattierten. Der Winkel sei günstig. Aber nicht um direkt aufs Tor zu schießen. Kroos legte ihn kurz auf Reus ab, und jagte ihn dann angeschnitten in den rechten, von ihm aus gegenüber liegenden Winkel. Er lief in die Ecke zu den deutschen Fans und breitete die Arme aus. Er hätte genauso gut fragen können: War da was? Und wie. Aber der Reihe nach.
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Die Aufstellung war für Kroos nicht die schlechteste aller Nachrichten gewesen. Bundestrainer Joachim Löw hatte ihm Sebastian Rudy zur Seite gestellt, einen Spieler, mit dem er sich schon seit Jahren gut versteht, obwohl sie auf Vereinsebene nie zusammengespielt haben. Eine gemeinsame Vergangenheit haben sie dennoch: Bei der U17-WM, lang ist's her, hatten sie gemeinsam das defensive Mittelfeld einer deutschen Mannschaft gebildet, die Turnierdritter und damit ein Vorbote der späteren Erfolge auf Erwachsenen-Ebene wurde. Rudy aber musste zur 31. Minute verletzt ausgewechselt werden; Trainer Löw beorderte Ilkay Gündogan aufs Feld.
Wallungen waren auch am Samstag bei Kroos nicht zu sehen
Auf ebendiesen Gündogan hatte Kroos im Mittelfeld einen Pass spielen wollen, der in keiner Dimension zu Kroos passen wollte. Es war ja nicht nur, dass er unsauber gespielt war. Er hatte nichts mit der Klarsicht zu tun, die sonst seine Aktionen kennzeichnet. Und der frühere Hamburger Marcus Berg erahnte den Pass, fing den Ball ab und leitete einen tödlichen Konter ein. Über zwei Stationen landete der Ball bei Schwedens wuchtigem Stürmer Ola Toivonen; der Rettungsversuch von Innenverteidiger Antonio Rüdiger kam zu spät. Über Torwart Manuel Neuer senkte sich der Ball ins Tor (32.). Toni Kroos, der nahe der Ostsee groß wurde, aber im Fußball nie ein Meister des Krebsgangs war, hatte zwar Anstalten gemacht, bei der Bereinigung der Situation mitzuhelfen. Doch dafür kam er zu spät. Als er den Ball im Tor sah, senkte er bloß den Kopf.
Was in der Folge zu beobachten war, ließ gewissermaßen eine Charakterstudie zu. Dass Kroos sich bei Real Madrid unverzichtbar gemacht hat - und unter anderem seinen Beitrag zu vier Champions-League-Siegen leistete -, hat mit der gleichen Eiseskälte zu tun, die ihn die Peinlichkeit vergessen ließ. Denn nur weil sein Puls kaum Schwankungen erfährt, wenn er auch dem Platz steht, kann er mit der Präzision eines Metronoms agieren. Tick, tack, tick, tack. Wallungen waren auch am Samstag bei Kroos nicht zu sehen, wohl aber dies: dass er weiterhin Bälle forderte. Dass seine Kameraden den Ball bei ihm gut aufgehoben wussten. Und dass er erkennbar versuchte, sich Spiel und Gegner zum Untertan zu machen.
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Das war beim Auftaktspiel gegen Mexiko noch anders gewesen - und akzentuierte sich in der zweiten Halbzeit. Es gab kaum einen vielversprechenden Angriff der Deutschen, bei dem Kroos nicht seine Füße im Spiel gehabt hätte. So auch beim Ausgleich, den er mit einem Pass auf Timo Werner einleitete. Der Leipziger passte in die Mitte, Mario Gomez verpasste, aber Marco Reus war zum 1:1 zur Stelle.
Danach leistete sich Kroos noch einen Fehler, den man von ihm nicht kennt. In der 69. Minute spielte er in der Hälfte der Schweden einen Fehlpass, der die deutsche Hintermannschaft fast verraten und verkauft hätte. Doch der Konter verlief diesmal im Nichts. Es folgte der Platzverweis für Jérôme Boateng (Gelb-Rot in der 82. Minute), der die Konzentration von Kroos nicht einmal annähernd tangierte. Seinem linken Stiefel entstammte der Flankenball, den Mittelstürmer Mario Gomez fast zum 2:1 verwertet hätte (88.), Torwart Robin Olsen rettete; kurz darauf dankten die Schweden noch dem Pfosten, der einen Gewaltschuss von Julian Brandt vom Sechzehner ins Feld zurückspuckte. Und dann kam der Freistoß zum 2:1, der Torwart Olsen die Tränen in die Augen schießen ließ.
Als der Schlusspfiff ertönte, kniete Kroos nieder und trommelte mit den Fäusten auf den Rasen ein. Ausgerechnet er, der Mann, der manchmal eine wandelnde Kältekammer zu sein scheint. Und der am Samstag auf eine Passquote von 93 Prozent kam.