Das alberne Internet, wie Uli Hoeneß es nennt, dürfte sich heute noch ärgern, dass es damals noch nicht erfunden war. Was hätten sich damit für Klickzahlen generieren lassen! Wobei das Verb "generieren" womöglich ebenfalls noch nicht erfunden war, als Pal Csernai am 3. Februar 1979 diesen Satz sagte: "Müllers Leistungen reichen für die Bundesliga nicht mehr aus. Der Verein kann es sich deshalb nicht leisten, ihm noch eine Chance zu geben." Tatsächlich ging der 3. Februar 1979 als der Tag in die Geschichte ein, an dem der unvergleichliche Gerd Müller, damals 33, sein vorletztes Bundesligaspiel bestritt. Bei einer 1:2-Niederlage in Frankfurt holte Csernai Müller nach 82 Minuten vom Platz und ersetzte ihn durch einen Menschen namens Norbert Janzon, der später Trainer beim TSV Ebersberg wurde. Müller spielte dann noch einmal gegen Borussia Dortmund für den FC Bayern, aber der Einsatz vermochte die Worte und die Auswechslung von Csernai nicht mehr zu kitten.
Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Gerd Müller wurde von Csernai immerhin nur ausgewechselt. Thomas Müller dagegen wird 40 Jahre später von Niko Kovac höchstens noch eingewechselt. Und Kovac' flankierender Satz geht so: "Wenn Not am Mann sein sollte, wird er mit Sicherheit auch seine Minuten bekommen."
Die Parallelen drängen sich von selbst auf
Noch ist nicht entschieden, ob und wie sich ein relevanter Teil der Bayern-Geschichte 40 Jahre später wiederholt, aber die Parallelen muss man nicht lange suchen. Sie drängen sich von selbst auf. Und das nicht nur, weil die beiden Spieler, um die es geht, einen praktischen Nachnamen tragen und jeder auf seine Art ein bisschen unvergleichlich ist.
Gerd Müller ist damals gekränkt nach Amerika verzogen, von Thomas Müller sind solche Pläne nicht bekannt, auch wenn er manchmal schon Englisch spricht. "Nothing to say", sagte Thomas Müller jetzt nach dem 1:2 gegen Hoffenheim, und natürlich wusste er, dass sich aufgrund der zwischenzeitlichen Erfindung des Internets auch mit Nicht-Aussagen Klickzahlen generieren lassen. Mehr denn je hat der FC Bayern jetzt eine Thomas-Müller-Debatte, die - das weiß Thomas Müller natürlich - von einer Kovac-Debatte nicht mehr zu trennen ist.
Wie vor 40 Jahren fragen nun auch Leute innerhalb und außerhalb des Klubs: Wieso macht der Trainer das? Hat der keinen Respekt vor unseren Helden? Und damals wie heute fanden/finden die Helden starke Unterstützer. Uwe Seeler schrieb 1979 einen offenen Brief an Gerd Müller: "Niemand darf auf dir herumhacken. Ein so verdienstvoller Spieler hat einen ehrenvollen Abgang verdient." 40 Jahre später nennt der Bayern-Spieler Joshua Kimmich den Kollegen Thomas Müller "eine große Identifikationsfigur"; er verstehe, dass Müller unzufrieden sei: "Fünf Spiele nacheinander auf der Bank sitzen, das hat er sich sicher nicht so vorgestellt."
Schon deshalb ist der FC Bayern ja ein großer Verein: Weil er auf der Suche nach Beispielen so oft in der eigenen Geschichte fündig wird. Das heißt allerdings nicht, dass Kovac schaffen wird, was Csernai geschafft hat: Csernai blieb nach der Auswechslung von Gerd Müller noch vier weitere Jahre als Bayern-Trainer im Amt.
40 Jahre später kann dagegen keiner sagen, ob Niko Kovac oder Thomas Müller länger beim FC Bayern bleiben werden.
Die historische Wucht dieser Debatte wird Kovac zusetzen, so viel steht fest. Gefährlich für den Betriebsfrieden könnte die Debatte ja auch deshalb werden, weil alle irgendwie ein bisschen Recht haben und auf diesem bisschen Recht möglicherweise bestehen werden. Tatsächlich darf Thomas Müller die Moderation des Trainers missfallen, der Müller demonstrativ keinen Gefallen tut und ihm nach dem 7:2 bei Tottenham einen rotationsbedingten Startplatz gegen Hoffenheim verwehrt. Und dass der Not-am-Mann-Satz eine imposante Ungeschicklichkeit war, hat Kovac inzwischen eingesehen; er hat sich von den Kameras locken und zu einer Aussage verleiten lassen, obwohl er doch beschlossen hatte, nur noch etwas über Spieler zu sagen, die von Beginn an spielen.
Andererseits darf Kovac für sich reklamieren, dass er in einer Leistungsgesellschaft tätig ist, für die Müller längst nicht mehr unersetzlich ist. Und Kovac weiß auch, dass er im Grunde nur die Wahl der Qual hat: Lässt er Müller draußen, wirft man ihm einen Verstoß gegen das Vereinsstatut ("Mia san mia") vor, weil er sich am letzten Folklore-Spieler versündigt; gibt er Müller seine Position zurück und setzt den Brasilianer Coutinho auf die Bank, heißt es: Da schau her, das ist wie mit dem James, mit Künstlern kann der Kovac nix anfangen! Jetzt hat der Rummenigge uns endlich wieder einen Weltstar besorgt, und dann kommt dieser Defensivtrainer daher und vernichtet das Kapital!
Müller weiß, welchen Stellenwert er für die Emotionen dieses Vereins besitzt
Thomas Müller ist zu mächtig und zu anspruchsvoll, um sich wie einst Lukas Podolski beim DFB mit der Rolle eines Li-La-Laune-Bärs zu begnügen, der ab und zu mal mitkicken darf. Müller weiß, welche Bedeutung er für die Emotionen dieses Vereins besitzt, und er registriert genau, dass die Bosse dem Trainer öffentlich nicht zur Seite springen. Einem Wintertransfer wird der Verein kaum zustimmen, die Bosse werden erst mal abwarten - wie Müller spielt, wie Coutinho spielt, wie sich dieser Trainer entwickelt.
Der Klubchef Rummenigge weiß aber, dass das Leben weitergeht, selbst wenn Helden gehen. Als Gerd Müller am 3. Februar 1979 ausgewechselt wurde, schossen die Bayern nur drei Minuten später ein Tor. Der Torschütze: Karl-Heinz Rummenigge.
Hinweis: In einer ersten Version des Artikel hieß es, Gerd Müller hätte gegen Frankfurt am 3. Februar 1979 sein letztes Spiel für den FC Bayern gemacht. Tatsächlich war sein letztes Spiel ein Heimspiel gegen Borussia Dortmund am 10. Februar.