Tennis:Kerber lässt den Schmerz nicht nach draußen

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Zum Verzweifeln: Angelique Kerber im Finale von Rio. (Foto: dpa)

Ihrer Gegnerin Monica Puig gelingt im Finale das Spiel ihres Lebens. Angelique Kerber erkennt das an - und bleibt sich so auch in der Niederlage treu.

Von Holger Gertz, Rio de Janeiro

Wo Angelique Kerber hinkommt, ist Steffi Graf immer schon gewesen, das ist in Rio nicht anders als an jedem anderen Ort. Pressekonferenz nach dem Finale im Olympic Tennis Centre in Barra, zum Ritual gehört neuerdings, dass die Erfolge der Athletin auf dem Podium kurz historisch eingeordnet werden. "Deutsche Silbermedaillengewinner im Einzel der Frauen waren 1912 Dora Köring und 1992 Steffi Graf", sagt eine Frau vom Protokoll, und in dem Moment hat Angelique Kerber womöglich einen kurzen Moment darüber nachgedacht, was sie verloren hat im Endspiel gegen Monica Puig aus Puerto Rico. Oder gewonnen.

Wer über Angelique Kerber nachdenkt, denkt automatisch auch immer über Steffi Graf nach. Schicksal aller deutschen Tennisspielerinnen: dass sie gemessen werden an der ewigen Referenzgröße, der Majestät aus Brühl, die sich nach der Karriere in die Stille des Privatlebens verabschiedet hat, was ihre Größe nicht geringer macht und ihrer Legende nicht schadet.

Wenn Steffi Graf allerdings doch mal aus den Kulissen tritt und etwas sagt, dann oft in Zusammenhang mit Angelique Kerber. Vor den Australian Open haben die beiden zusammen trainiert, Graf erklärte, sie habe großes Vertrauen in die Stärke ihrer Nachfolgerin. Obwohl Kerber, wie jede andere, im klassischen Sinn nicht Grafs Nachfolgerin sein kann. 22 Grand Slam-Titel sind, wie jeder weiß, eine Marke für alle Ewigkeit.

Angelique Kerber gewann im Januar die Australian Open, als erste Deutsche nach Graf. Was folgte, war das beste Jahr in Kerbers Karriere, Wimbledon-Finale, Weltranglisten-Zweite. Die gebürtige Bremerin gehört nicht zu den Diven im Betrieb, sie ist ein angenehm zurückgenommener Mensch, bei solchen Charakteren kriegt die auf laute Reize gepolte Öffentlichkeit die Entwicklung manchmal nicht so mit. Aber die Entwicklung ist bemerkenswert.

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Auch Steffi Graf war nach Rio geflogen, Sponsorentermine, bei der Gelegenheit gab sie einige ihrer raren Interviews, in denen die Rede natürlich auch von Angelique Kerber war. Graf verfolgt Kerbers Reise, Graf schaut auf Kerber wie ein guter Mond. "Ich will ihr nicht zu viel Druck machen, aber ich habe große Hoffnungen auf eine Medaille", hat sie gesagt. "Ich werde ihr die Daumen drücken und hoffe, dass sie es schafft."

Neue Volksheldin in Puerto Rico

Angelique Kerber schaffte es ohne Satzverlust ins Finale. Ihre Stärken, jenseits der Athletik: Konzentration und Ruhe. Alles Vage war bis zum Finale aus ihrem Spiel verschwunden, eine eindrucksvolle Performance, die manche auch wieder nicht mitbekommen haben, was allerdings daran liegt, dass bei Olympia so unfassbar viel parallel und nebeneinander geschieht.

Finale auf den Centre Court im Olympic Tennis Centre in Barra, gegen die Turnier-Überraschung Monica Puig, 22, aus Puerto Rico. Schnelles Break für Kerber, die von der Grundlinie aus ihre Kontrahentin über den Platz scheuchte, es fing perfekt an und ging dann nicht so weiter. Rebreak Puig, spürbar kein Geschenk als Herausfordererin im Endspiel. Sehr laufstark, voller Energie. Gerade war sie zur Volksheldin aufgestiegen, im Halbfinale hatte sie die zweimalige Wimbledonsiegerin Petra Kvitova rausgeworfen und schon vor dem Endspiel die Bedeutung des Ereignisses festgeschrieben: "Die Goldmedaille würde für mich die Welt bedeuten."

Entsprechend enges Spiel im ersten Satz, die Außenseiterin erkannte die Gunst des Moments, manchmal ist eine Tür offen, dann muss man nur noch durchgehen. Kerbers Ausstrahlung veränderte sich, wo sie am Anfang noch unberührt aussehen wollte, immun gegen Puigs Überenergie, wirkte sie zum Ende des ersten Satzes ratlos. Netzroller für Puig, das berühmte Momentum hatte sich für eine Seite entschieden, 4:6, der erste Satzverlust von Kerber in Rio.

Die verschwand, etwas unrund laufend, kurz in der Umkleide. Die Fans von Puig vermuteten eine taktische Verletzung; einen Trick, um den für Kerber bis dahin verhängnisvollen Rhythmus des Spiels zu stören. Wie ein geliehenes Element aus der Legende von Steffi Graf übrigens: 1999, beim letzten French Open-Finale gegen Martina Hingis, waren beide kurz auf die Toilette gegangen, in ihrer Abwesenheit wechselte das Klima im Stadion, die Zuschauer empfingen Graf bei ihrer Rückkehr auf den Platz mit großer Wärme; die drehte das Spiel.

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Andere Situation diesmal, aber auch Kerber schien die Auszeit gutgetan zu haben, sie konnte sich im zweiten Satz besser auf ihr Service verlassen, aber sie dominierte nicht. Puig ließ sich nicht abschütteln, und wer sich die Mühe machte, in Kerbers Gesicht zu lesen, der erkannte Spurenelemente von Resignation, auch wenn sie den Satz rettete, mit 6:4.

Das Spiel erinnerte an das Doppel Nicolas Kiefer/Rainer Schüttler bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen. Die beiden Deutschen traten an gegen die Chilenen Fernando Gonzales/Nicolas Massu, die im Lauf des epischen Matches zu Gummiwandgiganten wuchsen. Sie wurden unbezwingbar. So wie Monica Puig, es war die Woche ihrer Karriere, im letzten Satz war die Angelegenheit klar gegen eine ausgelaugte Kerber. 41 Minuten brauchte sie für das 6:1, die allererste Goldmedaille für Puerto Rico in der olympischen Geschichte. Ein Abend, wie geschaffen um in Tränen zu versinken.

Danach war allerdings Angelique Kerber sehr schnell wieder Angelique Kerber, wie man sie kennt, sehr verbindlich, auch sehr fair. Der Grund für die Pause nach dem ersten Satz? "Da war etwas hinten am Rücken, Gesäßmuskel. Ich hab mich behandeln lassen, aber das soll jetzt nicht wie eine Entschuldigung klingen: dass ich wegen der Verletzung verloren hätte." Monica Puig habe, sagte Kerber "wahrscheinlich das Spiel ihres Lebens gemacht", sie selbst auf jeden Fall nicht.

Vielleicht ist auch alles gut so, wie es ist

Umso erleichternder, wenn man zurückblättern kann im Kalender und darin ein eigenes Spiel des Lebens findet, den Australian Open-Sieg gegen Serena Williams. Es war, sagte Kerber, auf jeden Fall ein gutes Jahr. Den Schmerz über das verlorene Gold ließ sie nicht nach draußen, vielleicht kommt er noch, vielleicht ist irgendwann auch alles gut so, wie es ist.

Wenn Kerber gewonnen hätte, wäre die Frau vom Protokoll sowieso auch da gewesen und hätte das Ganze historisch eingeordnet. Deutsche Goldmedaillengewinnerin im Tennis, Einzel: Steffi Graf, 1988. Wo Kerber ist, ist immer auch Graf. Sehr angenehm, dass die beiden so gut miteinander auskommen.

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