Synchronschwimmen:Ein Wimpernschlag

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Sehr synchron, aber nicht synchron genug: Das deutsche Duett Marlene Bojer (li.) und Michelle Zimmer verpasst in Barcelona die Olympia-Qualifikation. (Foto: Eric Alonso/Getty Images)

Deutschlands einzige Synchronschwimm-Olympiahoffnungen Marlene Bojer und Michelle Zimmer verpassen die Spiele in Tokio hauchdünn - sie wären die ersten deutschen Starterinnen seit 1992 gewesen.

Von Sebastian Winter

Das Piscina Sant Jordi liegt im Herzen Barcelonas, zwischen Sagrada Familia und dem Camp Nou, der Spielstätte des FC Barcelona. Nicht weit südlich, nahe des Hausberges Montjuïc, wurde 1992 ein Großteil der Wettkämpfe der Olympischen Spiele ausgetragen. Auch die Münchner Synchronschwimmerin Margit Schreib war dort, im Duett mit Monika Müller kam sie auf Platz 14. Es war der bisher letzte olympische Wettkampf mit deutscher Beteiligung in diesem ausgesprochen anstrengenden Sport, der Ballett, Turnen, Schwimmen und Gymnastik mit Kraft, Kondition, Ausdauer und Musikalität verbindet. Und der extremes Rhythmusgefühl verlangt, einen tollen Ausdruck, vor allem natürlich perfekte Synchronität. Über und unter Wasser, mit langen Tauchphasen unter höchster Anspannung.

Hier also, im Piscina Sant Jordi, sollten die Münchnerin Marlene Bojer, die wie einst Schreib für die Isarnixen startet, und ihre Berliner Partnerin Michelle Zimmer am vergangenen Wochenende ihre größte Prüfung bestehen - und sich als erstes deutsches Duett seit 29 Jahren für die Sommerspiele qualifizieren. "Das war unser großes Omen, für das wir gekämpft haben", sagt Bojer am Montag am Telefon. Nur belohnt wurde der Einsatz des einzigen deutschen Duetts bei seiner einzigen und schon zweimal verschobenen Qualifikations-Chance für Tokio nicht.

Exakt 0,1866 Punkte fehlten Bojer und Zimmer auf Kolumbien und den neunten Platz, den sie mindestens erreichen mussten. Mit insgesamt 165,8283 Punkten landeten sie auf Rang zehn - trotz einer neuen persönlichen Bestleistung in der Freien Kür, die auf ihre auch schon gute Technische Kür folgte. Aber sie hatten dort trotz ihres Rekords auch nicht ganz sauber gearbeitet, erzählt Bojer. "In unserem letzten Teil waren wir für unsere Verhältnisse sehr unsynchron, dort war der Wurm drin, das können wir eigentlich wesentlich besser." Und so verpassten Bojer und Zimmer, die auf das Stück "A big part of a big sun" der französischen Elektromusik-Künstlerin Delaurentis schwammen, eine noch höhere Bewertung, die ihnen den Weg nach Tokio wohl geebnet hätte. "Sie sind über sich hinausgewachsen", sagte Bundestrainerin Doris Ramadan dennoch.

Seit Oktober trainiert das deutsche Duett erst zusammen - die meisten anderen feilen seit vielen Jahren an ihren Küren

Das deutsche Duett hat eine erstaunliche Geschichte hinter sich, sein Start in Tokio wäre ein schöner, aber auch fast unwirklicher Schlussakkord gewesen. Denn Bojer und Zimmer trainieren erst seit dem vergangenen Oktober zusammen. Damals hatte Bojers eigentliche Partnerin Daniela Reinhardt sich nach anhaltenden Rückenproblemen ziemlich plötzlich vom Leistungssport zurückgezogen - ein paar Monate vor dem entscheidenden Wettkampf. Zimmer, 24, hatte ihre internationale Karriere längst beendet und arbeitete als Biotechnologie-Werkstudentin an der TU Berlin. Dann bekam sie den Anruf aus München und kündigte ihren Job, um ihre Olympiachance zu ergreifen.

In einem oft belächelten Frauen-Sport, in dem die Männer zwar seit 2015 bei Weltmeisterschaften in einem Mixed-Wettbewerb starten dürfen, nach wie vor aber nicht bei Olympia. Synchronschwimmen hat damit auch in Tokio ein Alleinstellungsmerkmal.

Binnen Monaten in dem so komplexen System zusammenzuwachsen, ist eine fast unlösbare Aufgabe. Die meisten Duette benötigen Jahre, um annähernd synchrone Darbietungen zu zeigen und das Kampfgericht auch mit ihrer Ausstrahlung zu überzeugen. Die Kolumbianerinnen Estefania Alvarez Piedrahita und Monica Sarai Arango Estrada hatten beispielsweise bereits 2016 in Rio an den Olympischen Spielen teilgenommen, die Qualifikationssiegerinnen aus Österreich, Anna-Maria Alexandri und Eirini-Marina Alexandri, sind Zwillinge, wie auch die Niederländerinnen Bregje De Brouwer und Noortje De Brouwer, die Vierte wurden. "Sie schwimmen zusammen, seit sie klein sind, darauf können sie bauen", sagt Bojer. Und auch auf ein komprimiertes Trainingsumfeld, das die Berlinerin Zimmer und Bojer nicht hatten. Sie mussten gegenseitige Besuche organisieren oder gemeinsame Trainingslager, wie Anfang Juni auf Teneriffa, von wo aus es für sie direkt nach Barcelona ging.

Nun wollen sie sich bis Donnerstag noch ein wenig die Stadt anschauen, immerhin. Ihre beiden Freunde sind nachgereist, Gaudi steht auf dem Programm, ein gemeinsamer Bootsausflug hinaus aufs Meer. Sie werden wohl auch das Olympiaerbe besichtigen, womöglich kommen sie dabei auch an jenem Pool vorbei, in dem damals Margit Schreib ihren Wettkampf hatte. "Wir sind an dieser Reise gewachsen", sagt Bojer, 28, die sich gerade zu leer im Kopf fühlt, um über ihre Zukunft nachzudenken. Sie ist einfach nur froh, aus dieser Wettkampf-Blase herauszukommen, die nun für beide so plötzlich zerplatzt ist wie ihr Traum von Tokio.

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