Stürmer-Problem des DFB:Geradeaus-Kurs für die Trickser

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Mal wieder verletzt: Miroslav Klose erlebt eine schwierige Saison in Rom. (Foto: AFP)

Wer soll bei der Fußball-WM die deutschen Tore schießen? Wegen ihrer häufigen Verletzungen kann sich Bundestrainer Joachim Löw nicht mehr auf seine Mittelstürmer Gomez und Klose verlassen. Vor der WM hilft jetzt nur noch schnelles Umschulen.

Von Philipp Selldorf

Vor ziemlich genau vier Jahren besuchte Joachim Löw das Bundesliga-Spiel zwischen Bayer Leverkusen und Schalke 04. Es war keine schöne Zeit für ihn. Das Fernsehen fing Bilder eines genervt dreinblickenden Bundestrainers ein, die tagelang gesendet wurden. Den üblichen Kommentar zum Spiel lehnte Löw ab. Auf der Tribüne riefen die Schalker Fans im Chor: "Jogi, mach die Augen auf", und nach dem Spiel machte der Leverkusener Trainer Jupp Heynckes eine Bemerkung, die wie eine Rüge für den Kollegen vom DFB klang: "Er ist ein sehr guter Spieler, normalerweise ein Nationalspieler."

Mit Fürsprechern von Kevin Kuranyi, dem königsblauen Helden von Leverkusen, muss sich Joachim Löw heutzutage nicht mehr rumschlagen, obwohl Kuranyi immer noch Tore schießt (für Dynamo Moskau), und obwohl er, gebürtig in Rio de Janeiro, in Brasilien ein guter Fremdenführer für das Nationalteam wäre.

Aber womöglich wäre es Löw sogar recht, wenn ihn die Nation wie damals unter Anklage stellte, weil er den aktuellen Schützenkönig ignoriert. Das hieße, dass er wenigstens die Wahl hätte, jemanden zu ignorieren. Die Torschützenliste der Bundesliga bietet ihm aber keine Wahl: Erst kommen Mandzukic, Lewandowski, Ramos, Drmic, Raffael, Aubameyang, Firmino - und dann kommt Stefan Kießling. Leverkusens Mittelstürmer hat am Mittwoch zwar ein schönes Tor geschossen, eine neue Kießling-Debatte will aber niemand mehr führen. Die beiden Beteiligten und der Rest der Nation haben diesem tausend Mal erörterten Thema erschöpft entsagt.

Den Stürmern Kuranyi und Kießling ist gemein, dass sie in den Augen des Bundestrainers nie eine Chance hatten gegen Mario Gomez und Miroslav Klose. Als Kuranyi 2010 in Leverkusen zwei Tore schoss, hatte er mehr Treffer auf dem Konto als Gomez, Klose und Lukas Podolski zusammen. Zur WM in Südafrika fuhren Gomez, Klose, Podolski und, als Edelreservist, Kießling. Im ersten Halbjahr 2012 war Kießling der erfolgreichste Angreifer der Liga - aber zur EM fuhren Gomez, Klose und Podolski.

Auch für die WM 2014 plant Löw mit den dreien. Doch zunehmend herrscht die Sorge, ob er seinen Plan realisieren kann. Gomez, 28, befindet sich derzeit nicht am Arbeitsplatz in Florenz, sondern in München, wo er einer weiteren Untersuchung bei Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt entgegensieht. Er leidet an einer Knieverletzung, was immer das bedeuten mag, in seiner Berateragentur heißt es dazu: "Es ist schwierig, Definitives zu sagen."

Müller-Wohlfahrt hat eine Woche komplette Ruhe verordnet, nur physiotherapeutische Behandlung steht auf dem Programm. Danach hofft Gomez, zumindest konditionelle Aufbauarbeit auf dem Laufband und dem Ergometer zu leisten. Er kennt die Prozedur zur Genüge nach den beiden Knieverletzungen, die ihn durch die Saison begleitet haben. Die Gefühlslage des Angreifers ist gedämpft, die WM bleibt sein Ziel.

In der Praxis am Alten Hof in der Münchner Altstadt erfuhr Gomez, dass gerade eben ein geschätzter Kollege das Haus verlassen habe, auch Miroslav Klose, 35, holte sich Rat. Rückenprobleme. Auf Kloses Krankenblatt sind für die laufende Saison unter anderem Verhinderungsgründe wie Fuß-Operation, Erkältung, Beckenverletzung und Hexenschuss notiert. Trotz dieser schon etwas geriatrisch anmutenden Blessuren kam er mit Lazio Rom auf 21 Einsätze in der Serie A, sechs Tore und fünf Vorlagen sind dabei notiert. Sechs Tore hat auch Kuranyi in Moskau erzielt.

Vielleicht ist es besser, wenn Löw sich den Blick in die Statistiken erspart, sonst könnte ihm bange werden um das Unternehmen Brasilien. Deutsche Stürmer-Tore sind in Europa Randerscheinungen, Probleme, wie sie sein argentinischer Kollege Alejandro Sabella hat, sind für Löw nicht vorstellbar. Sabella könnte fast ein ganzes Team aus Kanonieren bilden. In den Schützenlisten aller europäischen Spitzenligen - außer der deutschen - sind Argentinier auf vorderen Plätzen zu finden: Tevez, Higuain, Palacio in Italien, Lavezzi in Frankreich, Messi in Spanien, Agüero in England.

Und während Löw in seiner Stürmernot nach spanischer Art mit der sog. falschen Neun experimentiert, ist Vicente del Bosque längst zum Stürmerprinzip zurückgekehrt. Negredo, Pedro, Villa und der eingebürgerte Brasilianer Diego Costa bieten ihm genügend Auswahl. Dass Löw sich weigert, die Favoritenrolle fürs Turnier anzunehmen, hat schon plausible Gründe.

Bei der Nationalmannschaft wird jetzt beklagt, dass die Vereine in den vergangenen Jahren versäumt hätten, neben all den kunstfertigen Mittelfeld- und Flügelspielern auch ein paar handfeste Torjäger auszubilden, und hier und da wird darauf hingewiesen, dass seinerzeit der DFB-Sportdirektor Matthias Sammer diesem Mangel nicht begegnet ist. Eine Einbürgerung, wie Spanien sie bei Atletico Madrids Costa vollzogen hat, wird den Deutschen nicht mehr gelingen.

Löw muss auf Gomez' Heilungskräfte und auf den Turniermythos Klose hoffen, er kann mit Spielern wie Kevin Volland oder Max Kruse improvisieren, und er wird versuchen, seinen verspielten Super-Technikern mehr Geradlinigkeit und Zielstrebigkeit zu vermitteln. Von Mario Götze wird berichtet, er sei in Sachen Spielauffassung und Torabschluss schon "viel konkreter" geworden, bei Marko Reus, Mesut Özil und Toni Kroos ist man sich da nicht so sicher. Es hat auch schon Trainingsspielchen gegeben, in denen nach einer Viertelstunde noch kein Tor gefallen war - weil die Techniker zu sehr mit Dribbeln und Tricksen beschäftigt waren.

Dass Löw neulich zum Spiel gegen Chile den Hamburger Pierre-Michel Lasogga, 23, eingeladen hat, beruhte übrigens auf keinem Irrtum. Löw hat ihn selbst ausgesucht. Mit zwölf Toren in 18 Spielen ist er derzeit der erfolgreichste deutsche Stürmer.

© SZ vom 29.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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