Sturz von Marc Gisin:Unkontrolliert über den Kamelbuckel

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Ein Rettungshubschrauber transportiert den verletzten Schweizer Skifahrer Marc Gisin ab. (Foto: AFP)
  • Skirennfahrer Marc Gisin stürzt auf der Abfahrt in Gröden schwer und ist sofort bewusstlos. Inzwischen soll es ihm wieder besser gehen.
  • Die Debatte um Sicherheit im alpinen Skisport dürfte durch den Sturz wieder neu angefacht werden.

Von Johannes Knuth, Gröden

Und dann war wieder dieser Moment gekommen: als habe jemand den Stecker aus der Stereoanlage gezogen und alles zum Verstummen gebracht, was ein alpines Skirennen ausmacht. Die aufgekratzten Stadionsprecher etwa, oder die Fanklubs, die Kuhglocken der Schweizer und die Lieder der Stadionregie, die auch im Zielraum von Gröden meist sorgfältig abgestimmt sind auf die Nationalität des jeweiligen Läufers (bei den Deutschen ist gerade "Feuerwerk" von Wincent Weiss schwer in Mode, auch wenn die Auftritte der DSV-Abfahrer daran zumindest vor den Rennen in Gröden eher selten erinnert hatten).

Am Samstag um halb eins, bei der Abfahrt der Männer auf der tückischen Saslong-Piste, war das alles mit einem Mal jedenfalls völlig unwichtig. Der Schweizer Marc Gisin war kurz vor dem mächtigsten Sprung ausgerutscht, "an der blödesten Stelle", wie der Deutsche Andreas Sander später befand - so als würde ein Skispringer kurz vor dem Absprung aus der Spur rutschen und unkontrolliert auf den Hang schießen. Der zweite der sogenannten Kamelbuckel-Sprünge in Gröden ist so eine Art Schanze. Die katapultiert die Fahrer bis zu 80 Meter weit, Gisin erwischte es voll in der Beschleunigungsphase. Er segelte lange durch die Luft, prallte auf dem Eis auf, mit Kopf und Nacken zuerst. Der Schweizer war sofort bewusstlos, die Kameras schwenkten schnell weg, spätestens da war jedem klar, wie ernst die Lage war.

Erst eine halbe Stunde später, als Gisin im Helikopter lag, ging das Rennen weiter. Im Sport muss es ja immer irgendwie weitergehen, aber man spürte, dass sie am Samstag große Mühe hatten, das übliche Protokoll abzuwickeln. "Das sah wirklich nicht gut aus", befand Aleksander Aamodt Kilde später, der mit einer Zauberfahrt gewonnen hatte und die norwegischen Festwochen in Gröden verlängerte, nach dem Erfolg von Aksel Lund Svindal im Super-G am Freitag. Der Schweizer Beat Feuz, der sich nach vielen vergeblichen Versuchen in Gröden auf dem Podest eingefunden hatte, als Dritter, sagte: "In erster Linie bin ich traurig, dass unser Teamkollege so schwer gestürzt ist." Und Sander, am Samstag 19. in einem stark verbesserten DSV-Team, gestand: "Da bleibt einem fast das Herz stehen." Am Ende wirkte es fast so, als habe der Sport die Szene an eine alte Spielregel erinnern wollen: Jede Abfahrt ist eine kleine Abenteuerexpedition, und manchmal prallen die Athleten auf Kräfte, die selbst für sie und ihre kühlschrankgroßen Körper zu mächtig sind.

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Bei Gisin mehrten sich am Samstagnachmittag übrigens die Indizien, dass er großes Glück gehabt hatte: Er musste zunächst intubiert werden, war später aber zumindest wieder in so stabilem Zustand, dass sie ihn für weitere Untersuchungen in die Schweiz flogen. Erste Ergebnisse erwarte man am Sonntag, teilte der Schweizer Verband mit.

Die Abfahrt wird gerne als Königsdiziplin der Alpinen bezeichnet, es geht um Mut, Überwindung und Gefahren, auch deshalb schauen ja so viele zu, wenn jetzt wieder die Klassiker anstehen. Schwere Unfälle und ihre Folgen zählen da zum Berufsrisiko, wie das Verdrängen dieses Risikos, ein Abfahrer kann seinen Beruf sonst nicht ausüben. Doch zuletzt wurde die Szene auch daran erinnert, dass das Risiko auch ein tödliches ist, nach den fatalen Unfällen des Franzosen David Poisson und des jungen Deutschen Max Burkhart im Vorwinter. In der Vorbereitung starb der junge Schweizer Skifahrer Gian-Luca Baradun, allerdings beim Gleitschirmfliegen, was die Speed-Mannschaft schwer getroffen hatte. Zum anderen erreicht das Niveau im Weltcup so langsam schwindelerregende Höhen, die Abstände im Klassement werden immer schmaler, die Grenze zwischen Sieg oder Sturz ebenfalls. "Man muss inzwischen wirklich ständig Vollgas geben, um ein gutes Ergebnis zu kriegen", sagte Josef Ferstl, als Zwölfter am Samstag bester Deutscher in Gröden, das könne schon mehr Fahrfehler provozieren. "Und das", sagte der 29-Jährige, "kann sich sehr böse auswirken."

Ein bisschen mehr Sicherheit oder ein bisschen mehr Tempo?

Die Debatte um Sicherheit in diesem zehrenden Gewerbe dürfte damit wieder neue Nahrung erhalten, zumal Hannes Reichelt, der österreichische Abfahrer und Athletenvertreter, schon vor dem Wochenende in Gröden seinen Unmut vorgebracht hatte. Die besten 20 Läufer des Weltcups hätten sich im Vorjahr mit den Verantwortlichen des Weltverbands Fis zusammengesetzt, sagte Reichelt, und vorgeschlagen, man möge einen schnittfesten, dickeren, mit Protektoren versehenen Rennanzug entwickeln. Am besten mit einem Einheitsstoff, das würde den Verbänden Geld und Entwicklungszeit sparen. Und dann? "Du rennst gegen eine Wand, weil auch unter den Verbänden keine Einigung zu erzielen ist", sagte Reichelt. Da nehme er seinen Österreichischen Skiverband nicht aus, denn: "Keiner möchte seinen vermeintlichen Entwicklungsvorteil aufgeben."

Auch der Airbag, der bei einem Sturz Luftkissenpolster unter dem Rennanzug auslöst, von der Fis aber nicht vorgeschrieben wird, findet eher wenig Anklang im Fahrerlager. "Alles, was den Sport sicherer macht, ist eine gute Sache", sagte Feuz, "aber bei dem Airbag bin ich noch nicht zu 100 Prozent überzeugt, weil es noch zu wenige Daten gibt." Der Österreicher Max Franz, am Samstag Zweiter, saß neben Feuz und nickte. Er fühle sich damit in seinem Bewegungsdrang eingeschränkt, sagte er später. Wenn ein Abfahrer die Wahl hat zwischen ein bisschen mehr Sicherheit und ein bisschen mehr Tempo, wählt er das Tempo, zumal in einem Sport, in dem die Elite immer enger zusammenrückt.

Gisin, der am Samstag ebenfalls keinen Airbag trug, kennt sich mit den Nebenwirkungen seines Sports mittlerweile schmerzhaft gut aus. Er rauschte in seinen ersten drei Wintern als Abfahrer dreimal ins Fangnetz, das vorerst letzte Mal war er 2015 in Kitzbühel auf den steilen Hang an der Hausbergkante verunfallt, ein Schädel-Hirn-Trauma beendete damals seinen Winter. Am Freitag hatte er für die Neue Zürcher Zeitung noch eine Kolumne geschrieben, "Wie ein Sturz im Kopf funktioniert" stand darüber. "Stürze sind sogar maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich gelernt habe, Ski zu fahren", schrieb Gisin: "Umfallen, aufstehen, daraus lernen, weiterfahren. Als Leistungssportler muss man immer und immer wieder an seine Grenzen gehen, um Fortschritte zu machen. Grenzen, die in unserem Fall auch durch Stürze aufgezeigt werden."

© SZ vom 16.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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