Schwimm-WM:Ratlos im Becken

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Marlene Bojer bei ihrer Solo-Kür, bei der sie in Fukuoka eigentlich ein so gutes Gefühl hatte. (Foto: Marko Djurica/Reuters)

Marlene Bojer hat in ihrem ganzen Leben Haltung im Wasser gezeigt. Doch das neue Wertungssystem bringt die Münchner Synchronschwimmerin in Fukuoka an sportliche und mentale Grenzen.

Von Sebastian Winter

Marlene Bojer hat sie noch immer im Hotelzimmer, diese Motivationswand. Dort ist der Zeitplan aufgelistet, erzählt sie am Telefon, ein Deutschland-Herz haben sie hingemalt und ein paar Sprüche, die sie in die Wettkämpfe begleiten sollten. "Time to shine", zum Beispiel, Zeit zu glänzen, oder ihr Schlachtruf: "Das wird Maschine!" Es ist gerade nur so in Fukuoka, wo die Münchnerin Bojer seit einer knappen Woche an der Synchronschwimm-Weltmeisterschaft teilnimmt: Sie kann nicht mehr glänzen. Ihr letzter Wettkampf ist seit Donnerstag vorbei. Mit dem Team hatte sie sich nicht fürs Finale qualifiziert. Seither wächst bei Bojer die Erkenntnis, dass ihre nun schon sechste WM zugleich herausfordernd war wie kaum eine zuvor.

Im neuen Wettbewerb Acrobatic Routine hatte das deutsche Team, in dem neben dem einzigen Mann Frithjof Seidel unter anderen Bojer selbst, ihre Zimmerkameradin und frühere Duettpartnerin Michelle Zimmer sowie Bojers Vereinskameradinnen Maria Denisov und Solène Guisard von der SG Stadtwerke München mitmachen, am Montag einen tollen Auftakt erlebt. Es kam ins Finale und belegte dort Rang neun. Dann aber erlebte Bojer im Freien Solo eine der größten Enttäuschungen ihrer Karriere. 2022 stand sie dort noch im Finale von Budapest, kam in die Top Ten. Nun erhielt sie gleich vier Base Marks von den Wertungsrichtern, Abzüge im Schwierigkeitsgrad. Bojer landete abgeschlagen auf Platz 23. "Ich hatte nach dem Wettkampf gedacht, fürs Finale reicht das auf jeden Fall, ich hatte ein richtig gutes Gefühl. Dann kam die Wertung, und ich war völlig perplex", sagt Bojer - und wird grundsätzlich: "Es ist hier für mich ganz schwierig, ein Auf und Ab. Wir haben durch das neue Wertungssystem die Möglichkeit, hoch zu fliegen, aber auch ganz tief zu fallen." Man hört heraus, dass sie nicht wirklich glücklich mit der Novelle ist.

Warum sie so viele Strafpunkte bekommen hat, können sich weder Bojer noch ihre Coaches erklären

Anfang des Jahres hat der Weltverband die neuen Regeln eingeführt. Wenn man bedenkt, dass es quasi unmöglich ist, in dieser Zeit neue Kürelemente einzustudieren (das braucht jahrelange akribische Arbeit), dann war diese Entscheidung, vorsichtig formuliert, nicht gerade athletenfreundlich. Die Funktionäre wollten den Sport eineinhalb Jahre vor den Olympischen Spielen von Paris messbarer machen, nicht mehr so abhängig vom womöglich subjektiven Juryurteil. In Fukuoka müssen nun, wie schon in den Weltcups zuvor, bestimmte Elemente gezeigt werden, die einen Schwierigkeitsgrad ergeben. Je höher, desto besser. Wird nur minimal von einem Element abgewichen, dann gibt es die Base Mark. Und da gehen die Meinungen, was nun gut oder schlecht dargeboten wird, weit auseinander. Warum sie so viele Strafpunkte bekommen hat, können sich jedenfalls weder Bojer noch ihre Coaches erklären.

Ausdrucksstark: Die 30-jährige Münchnerin hat das deutsche Synchronschwimmen in den vergangenen Jahren bestimmt. (Foto: Quinn Rooney/Getty Images)

Die verschiedenen Nationen hätten sich nach der Entscheidung des Weltverbands in einem richtigen Wettlauf um die höchste Schwierigkeit befunden, sagt Bojer, "jeder dachte beim ersten Weltcup, in dem die neuen Regeln gegriffen haben: Heilige Scheiße, ich muss meine Kür ändern". Sie selbst übte mit ihren Heimtrainerinnen und Bundestrainerin Stephanie Marx bis zum Abwinken, um ihr Programm ans neue Wertungssystem anzupassen.

Nach dem Wettkampf am Montag war sie untröstlich: "Für meine Wertung, unter 10, hätte ich gar nicht ins Wasser springen müssen."

Bojer möchte nicht undankbar klingen. Sie liebt ihren Sport, hat unzählige WMs, EMs und Weltcups in aller Herren Länder erlebt, ihr Verein SG Stadtwerke München und die Münchner Synchronschwimmgruppe Isarnixen haben sie immer unterstützt. Bei der EM Ende Juni erlebte Bojer in Krakau ihren vielleicht schönsten und auch einen historischen Moment, als sie mit dem Team in der Freien Kombination Silber gewann - die erste Medaille für Deutschland seit 40 Jahren. Aber gerade verschwendet sie in Fukuoka schon den einen oder anderen Gedanken an die Frage, wofür sie den Aufwand der letzten paar Monate betrieben hat.

Paris wird wohl ein Traum bleiben. Und die Frage ist: Welche Ziele bleiben ihr noch?

Im März ist sie 30 Jahre alt geworden. Sich endlich einmal für die Spiele qualifizieren, Paris 2024, das wäre wohl ihr letzter großer Traum; nach diesem verhexten Juni 2021, als sie - mit Zimmer - bei der Olympia-Qualifikation in Barcelona den Sprung nach Tokio um Haaresbreite verpasst hatte. Und nach vielen Jahren, in denen es das Synchronschwimmen auch im Deutschen Schwimm-Verband nicht wirklich einfach hatte, aufzublühen. Der Fokus liegt dort eher auf dem olympischen Kernsport Schwimmen. Auf eine Förderung durch die Bundeswehr wartete Bojer seit mehreren Jahren vergeblich.

Paris wird wohl ein Traum bleiben. Ein anderes, jüngeres deutsches Duett hat Bojer und Zimmer inzwischen abgelöst, einen olympischen Solo-Wettbewerb gibt es nicht, und mit dem Team sind die Deutschen noch zu schwach, um sich zu qualifizieren. Und so wird Marlene Bojer im Herbst ihre Masterarbeit abgeben, sie schreibt an einem Marketingkonzept für einen virtuellen Escape-Room der Hochschule München. Schon im Sommer, nach einem kleinen Malta-Urlaub mit ihrem Freund, möchte Bojer über ihre Synchronschwimm-Zukunft entscheiden. Die Frage ist: Welche Ziele bleiben ihr dort noch?

Sie erzählt das ganz ohne Bitterkeit, sie ist ein sehr positiver Mensch, den Weg in den Spitzensport würde sie wieder genauso einschlagen. Aber sie weiß auch, dass es viel zu verbessern gäbe in diesem System, auch jenseits des neuen Wertungssystems.

Am Samstag sind sie alle noch bei der üblichen Abschlussgala eingeladen, danach steht ein Sushi-Essen auf dem Plan - und vielleicht der Besuch einer Karaoke-Bar. "Wir haben richtig Bock darauf", sagt Marlene Bojer. Sie wird einen passenden Song finden, um ihren Ärger hinauszuschreien.

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