Schwimm-WM:Befreit aus dem Gedankenkarussell

Lesezeit: 3 min

Auf dem Weg zu WM-Bronze über 400 Meter Freistil: Isabel Gose. (Foto: Oli Scarff/AFP)

Isabel Gose äußert offen Selbstzweifel und zeigt Feinfühligkeit. Damit hebt sie sich angenehm ab im oft lärmenden internationalen Profisport. Nun hat eines der größten deutschen Schwimmtalente WM-Bronze gewonnen.

Von Sebastian Winter

Schwimmer haben, anders als Sportprofis, die ihre Wettkämpfe an Land ausüben, ein begrenztes Repertoire an Emotionen zur Verfügung, wenn sie ihr Rennen beendet haben. Sie können nicht etwa nach einem Tor auf dem Rasen unter Mitspielern begraben werden wie die Fußballer. Wenn sie euphorisch sind, ballen Schwimmer die Hände zu Fäusten, schlagen mit der Hand aufs Wasser - oder blicken enttäuscht zur Anzeigetafel.

Isabel Gose? Lehnte über der Schwimmleine und weinte. Ihre Tränen waren Ausdruck purer Erleichterung nach harten Jahren, in denen sie sich in die erweiterte Weltspitze gekämpft hatte, nie aber ganz nach vorn. Europameisterin war sie im Sommer 2022 in Rom über 400 Meter Freistil geworden, das schon. Aber eine WM-Medaille fehlte ihr bislang im 50-Meter-Becken. Nun ist Gose bei den Weltmeisterschaften in Doha Dritte über dieselbe Strecke geworden, mit deutschem Rekord von 4:02,39 Minuten, verbunden mit der Qualifikation für die Sommerspiele in Paris. "Wie lange versuche ich schon, unter 4:03 zu schwimmen", sagte sie, "das ist einfach ein super Start ins olympische Jahr."

Schneller als Gose waren nur die neue Weltmeisterin Erika Fairweather, die in 3:59,44 das erste WM-Gold überhaupt für Neuseeland gewann, und die Chinesin Li Bingjie. Man könnte nun einwenden, dass in der Australierin Ariarne Titmus, der US-Amerikanerin Katie Ledecky und der Kanadierin Summer McIntosh die Allerbesten bei diesen in den Terminkalender gequetschten Titelkämpfen fehlen. Wären sie am Start gewesen, hätte Gose wohl keine Medaille gewonnen. Man kann es aber auch so sehen wie die 21-Jährige: "Ich habe vorher gesagt, so eine Chance kriege ich nicht noch mal, es sind wirklich starke Mädels nicht hier. Es war wirklich wichtig für mich, diesen Step nach vorne zu machen", sagte Gose, die bei dieser WM noch über 1500 und 800 Meter Freistil antritt.

Emotionen am Ende: Gose vergießt nach dem Rennen Tränen der Erleichterung. (Foto: Philipp Brem/Gepa/Imago)

Ihr Erfolg vom Sonntagabend reihte sich ein in den bronzenen Auftakt für das deutsche Beckenschwimmen in Doha. Denn eine halbe Stunde zuvor war Lukas Märtens, der früher mit Gose liiert war und mit ihr in der Magdeburger Gruppe von Bundestrainer Bernd Berkhahn trainiert, Dritter über 400 Meter Freistil geworden - nur 25 Hundertstelsekunden hinter Überraschungsweltmeister Woo-min Kim aus Südkorea, was den Deutschen ärgerte: "Wenn nur zwei Zehntel zur Goldmedaille fehlen, dann denke ich natürlich, vielleicht hätte ich doch irgendwo noch ein Stündchen länger trainiert." Andererseits war Märtens im Winter wochenlang krankheitsbedingt ausgefallen.

Während es für Märtens nach Silber 2022 in Budapest und Bronze 2023 in Fukuoka die dritte WM-Medaille auf seiner Paradestrecke ist, macht sich Gose erst langsam auf ins gleißende Scheinwerferlicht der Weltelite. Die Freistilexpertin ist ohnehin eine feinfühlige, oft nachdenkliche Frau. Sie hat nicht dieses mitunter laute Selbstvertrauen, das viele Konkurrentinnen umgibt wie eine schützende zweite Haut. Sie ist überaus selbstkritisch, hat Selbstzweifel, die sie vor dem Mikrofon nicht verschleiert, was sehr unüblich ist im sonst oft so lärmenden Spitzensport. Und doch hat sich Gose, eher im Stillen, neben Angelina Köhler und Anna Elendt zu einer der drei führenden deutschen Beckenschwimmerinnen entwickelt.

Die richtige Balance zwischen Körper und Geist ist ein wichtiges Thema auch im Schwimmen

Die Reise führte die in Berlin geborene Gose in den vergangenen Jahren an vier verschiedene Schulen und drei verschiedene Stützpunkte, nach Potsdam, Heidelberg und schließlich nach Magdeburg. Schließlich ging Gose nach der zwölften Klasse mit der Fachhochschulreife vom Gymnasium ab, weil sie am Spagat zwischen Lernstress und Leistungsschwimmen zu zerbrechen drohte. Sie ist auch ein Paradebeispiel dafür, wie hoch die Hürden mitunter sind, die junge Spitzensportler im föderalen System zu überwinden haben. "Ich quäle mich da durch", hatte Gose damals gesagt - und sich nach der zwölften Klasse befreit gefühlt, weil sie unter Berkhahn in Magdeburg nur ihren Sport im Auge hat.

Der permanente Leistungsdruck war bislang ein großes Hindernis für Gose, vor allem jener, der aus ihrem Inneren kommt. So sagte sie der SZ vor der WM: "Ich habe mich da oft verrückt gemacht und mir wurde es dann einfach zu viel." Es sei ihr inzwischen sehr wichtig, "dass ich mit meinem Gedankenkarussell während des Trainings und des Wettkampfs zurechtkomme". Auch deshalb nimmt sie sich seit geraumer Zeit einmal pro Woche psychologische Hilfe in Magdeburg. "In den letzten Monaten habe ich erkannt, dass das ein sehr wichtiger Baustein ist, um noch mehr aus mir herauszuholen. Das ist das Beste, was ich machen konnte." Seither zieht sie mit einer neuen Lockerheit in ihre Wettkämpfe - mit Erfolg, wie ihr erstes Rennen in Doha nun beweist.

Lukas Märtens (Mitte) in seinem Bronze-Wettkampf über 400 Meter Freistil. (Foto: Lee Jin-man/AP)

Ohnehin ist die richtige Balance zwischen Körper und Geist ein immer größer werdendes Thema auch im Schwimmen, diesem so trainingsintensiven Sport, bei dem man sich so sehr selbst überlassen ist. Adam Peaty, der zweimalige Olympiasieger aus England, kehrt in Doha gerade auf die WM-Bühne zurück, nachdem ihn depressive Phasen im vergangenen Jahr zu einer langen Pause gedrängt hatten.

Gose hat für sich erkannt, dass sie nur in die Weltspitze vordringen kann, wenn sie mit sich auf dem Startblock im Reinen ist. Ihr haben die Gespräche auch über die schwierigen Wochen Ende Januar hinweggeholfen, als sie sich nach der Rückkehr von einem sonnigen Trainingslager in Südafrika mit Safari-Ausflügen zu Geparden zu Hause eine Magen-Darm-Grippe eingefangen und viel Gewicht verloren hatte. Aber wer sich aus seinem Gedankenkarussell befreit, überwindet auch solche Rückschläge schneller.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusInterview zur Schwimm-WM
:"Ich konnte Jürgen Klopps Müdigkeit gut nachfühlen"

Schwimm-Bundestrainer Bernd Berkhahn spricht vor der WM in Doha über Florian Wellbrocks Muskeln, den Wert der Titelkämpfe unmittelbar vor Olympia, über Training mit Bremshosen und Fallschirmen - und die Belastung von Trainern.

Interview: Sebastian Winter

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: