Schweiz bei der EM 2021:Zu exakt 98,2 Prozent eine Runde weiter

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Granit Xhaka (Mitte) hatte nach dem Sieg gegen die Türkei einiges zu sagen. (Foto: Dan Mullan/Getty Images)

"Die Leute versuchen, diese Mannschaft kaputt zu machen": Die Schweizer Nationalspieler empfinden ihren Sieg gegen die Türkei als Reaktion auf die Kritik im Land - nun muss gerechnet werden.

Von Markus Schäflein

So richtig glücklich konnten die Schweizer dann doch nicht sein. Mit dem 3:1 (2:0) gegen die Türkei hatten sie ein so genanntes Ausrufezeichen gesetzt, das schon, aber vor allem blieben viele Fragezeichen. War ihr phasenweise wunderschöner Fußball nur der Tatsache geschuldet, dass der Gegner keine gesteigerte Lust und keine Mittel zu erkennen gab, ihn zu verhindern?

Und vor allem: Reichte der wunderschöne Erfolg dazu, ins Achtelfinale einzuziehen? Das wusste am Sonntag in Baku niemand. Mit vier Punkten (und einer zwei Treffer schlechteren Torbilanz gegenüber Wales) stehen die Schweizer auf Platz drei der Gruppe A, sie mussten nun über die Hoffnung reden, als einer der vier besten Gruppendritten weiterzukommen.

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Beim 3:1 gegen die Türkei verpassen die Schweizer einen höheren Sieg - und damit den zweiten Platz. Ob sie zu den besten Drittplatzierten gehören, muss sich erst noch zeigen.

Von Markus Schäflein

Trainer Vladimir Petkovic gab sich zuversichtlich, dass das klappen würde. Dabei hatte er noch gar nicht die Analyse eines "führenden Fußball-Analysten" im Schweizer Tagesanzeiger gelesen, der die Wahrscheinlichkeit eines Weiterkommens auf exakt 98,2 Prozent beziffert hatte. "Ich denke, vier Punkte sollten genug sein. Ich bin optimistisch", meinte Petkovic. Was sollte er auch sonst sagen, denn: "Wir können in den nächsten Tagen nichts mehr machen."

Die Schweizer hatten nun damit zu rechnen, die durch den Turniermodus bedingte Unsicherheit als erster feststehender Dritter möglicherweise lange aushalten zu müssen. Wenn die Ergebnisse der Gruppen B und C passen, könnten sie schon an diesem Montagabend durch sein, schlimmstenfalls bis Mittwochabend. Weil die Ergebnisse der Gruppen B und C optimal passten, waren sie dann aber schon am Montagabend durch - zu 100 Prozent. Und die kurze Zeit des Wartens ließ sich ganz angenehm gestalten, berichtete der Doppeltorschütze Xherdan Shaqiri mit Blick aufs Mannschaftshotel: "Wir haben einen schönen Pool da."

Die goldene Generation war für die Landsleute zuletzt nur noch die Truppe mit den blondierten Haaren

Die nächste Frage ist also, ob die Schweizer Fans, die sich zuletzt über Friseurbesuche und teure Autos der Nationalspieler echauffiert hatten, ihren Fußballern nun wenigstens den Swimmingpool gönnen. Wie sehr die Debatten die Mannschaft genervt hatten, machte im Gefühl der Erleichterung nach dem Sieg Granit Xhaka deutlich, der selbst durch den Besuch in einem Tattoo-Studio zwischen Trainingslager und EM-Abreise einige Aufregung hervorgerufen hatte.

"Wir wurden viel kritisiert für Kleinigkeiten, die meiner Meinung nach nicht so wichtig sind", sagte Xhaka im SRF. "Wenn die Leute von außen das Gefühl haben, dass jeder Einzelne einen Kommentar dazu abgeben muss, dann bitteschön. Die Leute versuchen, diese Mannschaft kaputt zu machen, indem sie viel reden und viel schreiben. Aber eines kann ich garantieren: Diese Mannschaft geht an solchen Sachen nicht kaputt." Gegen die Türkei erfüllte die überaus talentierte Auswahl dann auch erstmals bei diesem Turnier die eigenen Erwartungen. "Wir hatten nie Probleme untereinander", betonte Xhaka. "Die Stimmung ist super bei uns."

Die goldene Generation war für die Landsleute zuletzt nur noch die Truppe mit den blondierten Haaren - das wollte sie dann doch nicht auf sich sitzen lassen. Wir gegen den Rest, so sah das aus, die Schweizer kombinierten schön und zielstrebig und hätten höher gewinnen können, um die Warteschleife zu umgehen. Dabei spielten sie eigentlich nicht gegen die Türkei, sondern gegen: die Schweiz.

Die vergangenen drei Turniere war für die Schweiz im Achtelfinale Schluss. Diesmal soll mindestens das Viertelfinale her

"Natürlich, jeder schlägt auf einen ein, wenn man kein Tor schießt, Kritik ist da schön und gut", meinte Haris Seferovic, der Schütze zum 1:0. "Aber wir sind ein Team, bei uns sticht keiner raus. Entweder laufen wir alle zusammen, oder wir machen es jeder alleine und es funktioniert nicht. Heute sind wir alle zusammengestanden."

Grimmiger Zauberzwerg: Xherdan Shaqiri, Schweizer mit Hang zu Traumtoren, krönte eine diesmal starke Teamleistung. (Foto: Ozan Kose/AFP)

Dabei stach Shaqiri heraus, zuletzt ebenfalls viel dafür kritisiert, dass er weit unter seinen Möglichkeiten bleibe - nun nannte ihn das Schweizer Boulevardblatt Blick nach langer Zeit mal wieder "Zauberzwerg". Bei großen Turnieren ist der 29-Jährige vom FC Liverpool als Serien-Traumtorschütze aufgetreten. Bei der WM 2014 in Brasilien, bei der EM 2016 in Frankreich und bei der WM vor drei Jahren in Russland scheiterte die Schweiz dennoch jeweils im Achtelfinale. Diesmal soll mindestens das Viertelfinale her - das Team will "Geschichte schreiben", wie es Xhaka formulierte.

Auch Trainer Petkovic hatte geahnt, dass es nicht notwendig war, die Besetzung nach zwei enttäuschenden Auftritten gegen Wales (1:1) und Italien (0:3) deutlich zu verändern. "Ich hatte nie Zweifel an Shaqiri oder Seferovic", betonte Petkovic: "Es wurde viel diskutiert und geschrieben, aber zum Glück habe ich nicht viel davon mitbekommen. So konnte ich ihnen das Vertrauen geben, welches sie, wie ich finde, auch verdienen." Und er darf ihnen bei dieser EM noch einmal vertrauen - vier Fußballspiele, zwei Rechenaufgaben und einige Poolbesuche später.

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