Gelegentlich sind die verdammten sozialen Medien doch zu etwas nutze. So kam die wichtigste Meldung des Spieltages bereits am frühen Samstagabend auf angemessene Weise unverzüglich und weltweit in Umlauf: Henning Matriciani im Smoking und im Besitz des Ballon d'Or, des goldenen Balls - die Verbreitung dieses fotografischen Dokuments duldete tatsächlich keinen Aufschub, selbst wenn es nur eine poetische Foto-Montage war. Dass als Absender Matricianis Arbeitgeber Schalke 04 firmierte, machte das Porträt eines fiktiven Superstars jedoch beinahe zu einem offiziellen Gegenstand.
Der Unterschied zwischen dem aktuellen Ballon d'Or-Inhaber Karim Benzema, 35, und Henning Matriciani, 22, lässt sich in Worten schlecht beschreiben. Der eine spielt bei Real Madrid und ist ein begnadeter Fußballer, der andere hat vor zweieinhalb Jahren nach einem Anruf von Gerald Asamoah die Arbeit als ordentlich ausgebildeter Physiotherapeut in Lippstadt niedergelegt, um sich dem Regionalliga-Team des FC Schalke 04 anzuschließen. Er habe bei dem Anruf zunächst an einen Scherz geglaubt, hat Matriciani erzählt, aber dann habe er mit Herzklopfen realisiert, dass es wirklich Asamoah war, the one and only.
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Nun, Marius Wolf und Donyell Malen und Mohammed Dahoud dürften sich nach diesem Wochenende gewünscht haben, dass es dieses Telefonat nie gegeben hätte. Sie haben am Samstagabend beim 100. Revierderby der Bundesliga zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund den längst nicht mehr in der vierten Liga kickenden Matriciani von seiner wirklich unangenehmen Seite kennengelernt: als giftigen Widersacher und als ständigen Begleiter, der sich partout nicht abschütteln lassen will, und immer wieder auch als Saboteur, der plötzlich herangerauscht kommt und einem mit Grätschen, die aus der Zeit der Vorfahren stammen, den Ball wegnimmt.
Garantiert ist nirgendwo auf der Welt lauter gejubelt worden als um kurz vor halb neun in der Gelsenkirchener Arena, als Matriciani in der Nachspielzeit per Rutschblockade in Dahouds Torschuss gefahren kam wie der Teufel in eine sündige Seele. 2:2 hieß es deshalb am Ende der aufregenden Partie, der Abpfiff löste gegensätzliche Gefühle aus: Euphorie bei Blau und Weiß, Ärger bei Schwarz und Gelb. Dieses Resultat sei "frustrierend", sagte BVB-Trainer Edin Terzic und setzte das dazu passende Gesicht auf.
2:2 gegen Dortmund:Ein unerwarteter Derbyheld lässt Schalke jubeln
In einem denkwürdigen Duell trotzt der Gastgeber dem Erzrivalen aus Dortmund einen Punkt ab. Das 2:2 ist auch das Ergebnis eines starken Willens - denn der BVB schafft es nie, die Moral der Schalker zu brechen.
Die Dortmunder hatten Grund, sich über das Remis zu ärgern. Sie hatten den spielerischen Klassenunterschied zum Erzrivalen nachgewiesen und zweimal in Führung gelegen, mit Chancen, den Vorsprung auszubauen. Terzics Enttäuschung galt der unentschlossenen Haltung seines Teams. In der zweiten Hälfte habe es seine Elf zugelassen, dass die Partie "emotional wurde", sagte er, "dann wurde es wild und genau so, wie Schalke es haben wollte" - und wie er es hatte vermeiden wollen. Womöglich habe der eine oder andere Spieler im Bewusstsein des 2:1-Vorsprungs gedacht, "es geht heute von allein", mutmaßte Sportchef Sebastian Kehl.
Sieben Spiele ohne Niederlage hintereinander sind nicht nur das Resultat von Malochen und emotionalem Rausch
Nach Hochmut hat es allerdings nicht ausgesehen, eher nach einer Mischung aus Erschöpfung, namentlich beim Vorarbeiter Jude Bellingham, und schleichendem Kontrollverlust. Der BVB schaffte es nicht, die Schalker Moral mit der kühlen Anwendung der technischen Vorteile zu brechen. Und wenn es um Leidenschaft und Willenskraft und um die wechselseitige Verbindung mit den eigenen Anhängern geht, dürfte Schalke 04 zurzeit Tabellenführer der Bundesliga sein. Der furiose Matriciani, fußballerisch alles andere als ein Galactico, personifiziert die neuerdings unbeugsame Schalker Gesinnung.
Doch sieben Spiele ohne Niederlage hintereinander sind nicht nur das Resultat von Malochen und emotionalem Rausch, hinter der Serie steht auch eine sportliche Entwicklung. Thomas Reis hat wie ein alter Goldschürfer am Klondyke River das Wertvollste hervorgeholt, das der Kader hergibt, und er hat ein strategisches Programm entworfen, das gegen die Konkurrenten im Abstiegskampf ebenso funktioniert wie gegen die eigentlich übermächtigen Borussen. Die Entscheidung, Ralf Fährmann, 35, wieder ins Tor zu stellen, hat sich dabei als Coup erwiesen. Am Samstagabend war es Fährmanns souveräne Präsenz, die Schalke in den heiklen Phasen im Spiel hielt. Nico Schlotterbeck und Raphael Guerreiro mussten beim 1:0 (38. Minute) und beim 2:1 (61.) den Ball schon sehr gut treffen, um den Schalker Schlussmann zu bezwingen.
Eine Arbeitsgemeinschaft auf links wird dem BVB zum Verhängnis
Der glühende Wunsch des Schalker Publikums, das Team im Abstiegskampf zu unterstützen, ist der andere tragende Faktor der Wiederbelebung. Matricianis erste Grätsche, mit der er nach zehn Minuten ein Zuspiel auf Marius Wolf abfing, feierte das Volk auf den Tribünen schon, bevor er sie ausgeführt hatte. Der Lärm schwoll an wie eine Sturmbö, als er dem Ball entgegenschlitterte, und entlud sich in einem triumphalen Aufschrei, als er ihn ins Aus beförderte. "Henning wurde auch schon kritisch gesehen", räsonierte Trainer Reis, "aber er ist der Beweis, dass bei uns alle gewillt sind, auch auf ungewöhnlichen Positionen zu überzeugen." Matriciani hat in dieser Saison schon auf allen Posten der Viererkette ausgeholfen, mit Vordermann Marius Bülter, dem Schützen zum 1:1 (50.) und Vorbereiter des 2:2 (79.), bildete er am Samstag auf der linken Flanke eine Arbeitsgemeinschaft, die womöglich ein schräges Bild abgab - die dem BVB am Ende aber zum Verhängnis geraten sollte.
Wie Schalke noch zum Ausgleich kam, sagt einiges darüber aus, wie Trainer Reis seine überschaubaren personellen Möglichkeiten zu aktivieren versteht. Torschütze Kenan Karaman hatte noch vor zwei Wochen beim Coach vorgesprochen, weil er das Gefühl hatte, nicht genügend Beachtung zu finden. Auch diesmal bekam er nur als Einwechselspieler die Chance, aber er hat auffallend energisch keine Zeit verloren, sie zu nutzen. Im Sommer am letzten Tag des Transferfensters ablösefrei aus der Türkei gekommen, war Karaman bisher nicht mal als ernst zu nehmender Mitläufer aufgefallen. Nun kann er sich "Derbyheld" auf die Visitenkarte drucken lassen. "Dass ich mein erstes Tor ausgerechnet im Derby mache - ein wahnsinniges Gefühl", schwärmte der Angreifer fassungslos.
Und trotzdem hat der Kampf ums Bleiberecht in der Liga für Schalke gerade erst begonnen. "Wir stehen im Moment da, wo wir am Ende der Saison nicht stehen wollen", sagte Thomas Reis. Man dürfe "nicht zu euphorisch sein" - immerhin eine Warnung, für die man noch vor zwei Monaten ein Königreich gegeben hätte.