Krise in Gelsenkirchen:Schalke ruft die Pflicht zum Abstiegskampf aus

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Vom wütenden Block die Meinung gegeigt bekommen: Spieler des FC Schalke 04, die sich nach dem 0:3 in Karlsruhe ihren Fans stellten, ziehen in Richtung Kabine davon. (Foto: Blatterspiel/Jan Hübner/Imago)

Tabellenplatz 16, hinten instabil, vorne ohne Dynamik: Der neue Trainer Karel Geraerts findet bei Schalke 04 ein Bündel an Problemen vor - auch abseits des Rasens hakt es.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Die Karriere, die Henning Matriciani im Laufe der vorigen Saison beim FC Schalke 04 machte, ließ amerikanische Tellerwäscher armselig aussehen. Sie mögen es zwar aus der Küche in die Millionärsvilla geschafft haben, doch was ist das schon gegen Matricianis unglaublichen Aufstieg vom Physiotherapeuten in Lippstadt zum Kult-Star auf Schalke und deutschen Nationalspieler? Dass es sich dabei um das U-21-Auswahlteam handelte, und dass ein als "Star" verehrter Spieler in Gelsenkirchen nicht zwingend ein begnadeter Fußballer sein muss, tut nichts Wesentliches zur Sache.

Matriciani, 23, gehörte nicht nur als Kuriosität im Rang eines neuen Yves Eigenrauch, sondern auch als zunehmend brauchbarer Abwehrspieler zu den Entdeckungen der Saison, und nach dem Abstieg waren alle froh, dass er im Sommer seinen Vertrag bis 2026 verlängerte. Trainer Thomas Reis lobte: "Mit seiner herausragenden Einstellung, Vielseitigkeit und Geschwindigkeit werden wir noch viel Freude an ihm haben."

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Am Sonntagnachmittag war Matriciani in der Tat wieder am schnellsten zur Stelle, als es galt, einen Angriff des Karlsruher SC abzufangen. Vorbildlich rutschte er in den Flachpass von Fabian Schleusener - und lenkte ihn geradewegs zum 0:3 ins eigene Tor. Danach, sagte später Trainer Karel Geraerts, sei das Spiel "dead", tot, gewesen. Vorwürfe an Matriciani erübrigten sich jedoch: Schon vorher hatte der Versuch der Schalker, den Rückstand aufzuholen, wenig Aussicht auf Verwirklichung erkennen lassen.

Der neue Vorstand arbeitete einst jahrelang an der Seite des Aufsichtsratschef

Matricianis persönliches Schicksal steht dabei stellvertretend für den Irrweg, auf dem sich die Schalker verloren haben. Er ist jetzt kein Kult-Star mehr, sondern Einwechselspieler und "Problemfall" ( Ruhr Nachrichten). Im vorigen Jahr wuchs er mit Enthusiasmus in eine Mannschaft hinein, die zwar vergeblich, aber standhaft und geschlossen gegen den Abstieg kämpfte. Nun gehört er einem in weiten Teilen umgebauten Team an, das als Organismus nicht funktioniert und von allgemeiner Verunsicherung befallen ist, was Matricianis Leistungen beeinträchtigt.

Schalke 04 hat zuletzt auch abseits des Spielfelds wieder einige Schlagzeilen produziert, die den grimmigen Humor der leidgeplagten Anhängerschaft herausforderten. Dass zum Beispiel der Aufsichtsrat einen neuen Vorstandschef engagiert hat, der jahrelang an der Seite von Aufsichtsratschef Axel Hefer bei der Tourismusfirma Trivago gearbeitet hat, das kann doch eigentlich nur ein Scherz sein, um den Medien Gelegenheit zu geben, Amigo-Vorwürfe zu erheben, oder? Anderswo vielleicht, auf Schalke nicht. Die Wahl von Matthias Tillmann, 39, sei das Ergebnis eines "Findungsprozesses mit externer Unterstützung", erklärte der Verein, was den Vorgang bis auf Weiteres nicht weniger seltsam erscheinen lässt.

Der ehemalige Investmentbanker Tillmann beginnt seinen Job als Chefvermarkter zu Jahresbeginn, bis dahin ist noch genug Zeit für weitere schlechte Nachrichten. Die jüngste Neuigkeit war, dass just schon der zweite Ärmel-Werbepartner Konkurs angemeldet hätte. Das ist zwar offenbar nicht ganz richtig, wie die betroffene Firma Hülsta verzweifelt beteuert, aber wohl auch nicht völlig falsch. Ob die Zahlungen weiterlaufen, dazu äußert sich der Verein nicht. Vielmehr weisen Gesprächspartner darauf hin, dass der Sport am Wochenende immer noch das entscheidende Thema sei.

Eine von vielen Problemzonen: das Schalker Mittelfeld um Lino Tempelmann (links). (Foto: Christian Kaspar-Bartke/Getty Images)

Hier ist jedoch statt der erhofften Besserung mit dem neuen Trainer durch das 0:3 beim KSC eine weitere Verschlechterung eingetreten. Relegationsplatz 16 ist für Erste die Heimat in der Tabelle, der Abstiegskampf zur neuen Pflicht ausgerufen worden. Trainer Geraerts bekannte, er neige nicht dazu, seine Spieler anzuschreien, diesmal aber habe er es beim Pausenstand von 0:2 getan. Es herrschten in verschärfter Form die gleichen Defizite wie zu Zeiten des entlassenen Trainers Thomas Reis und dessen Interimsnachfolger Matthias Kreutzer. Sie lassen sich ohne Aufwand von Fachbegriffen prägnant benennen: Defensiv ist die Mannschaft chronisch instabil, im Spiel nach vorne ohne Dynamik und ohne Ideen. Auch Geraerts betonte, die Analyse zur Pause sei "sehr einfach" gewesen. Man habe keine Duelle gewonnen, die Intensität vermissen lassen und sei zu wenig gelaufen. "Dafür brauche ich keine Statistik-Blätter - ich habe es live auf dem Feld gesehen." Der belgische Fußball-Lehrer setzte keinen Blümchen-Rahmen um seine Erörterungen.

Der dritte Komplettumbau des Kaders binnen dreier Spielzeiten ist offensichtlich misslungen. Im Aufstiegsjahr 22/23 bildete sich mit Spielern wie Ko Itakura, Victor Palsson, Rodrigo Salazar, Simon Terodde und Marius Bülter schnell eine tragfähige Struktur. In der Rückrunde der vorigen Saison konnte Reis auf eine Achse mit Moritz Jenz (jetzt VfL Wolfsburg), Maya Yoshida (Los Angeles), Tom Krauß (Mainz 05) und Alex Kral (Union Berlin) zurückgreifen; Salazar (Sporting Braga) und besonders Bülter (jetzt TSG Hoffenheim) setzten offensive Akzente.

Als Sportvorstand Peter Knäbel nun im Sommer die Strategie ausrief, weniger Spieler zu leihen und zwecks Substanzgewinn mehr Profis langfristig zu binden, erhielt er viel Beifall. Inzwischen gilt Knäbel als Auslaufmodell: Das neue Mittelfeld mit den Festangestellten Paul Seguin, Ron Schallenberg und Lino Tempelmann ist eine noch größere Problemzone als der Abwehrverbund. Lediglich der 17-jährige Assan Ouedraogo aus dem eigenen Nachwuchs hat sich hervorgetan. Vergleiche mit Julian Draxler folgten umgehend, umso enttäuschter waren die Leute, als es in der vorigen Woche hieß, ein Verkauf an RB Leipzig stehe bevor, und Schalke werde sich mit sieben Millionen Euro Ablöse begnügen müssen. Womöglich wird man aber auch dieses vermeintlich kleine Geld noch dringend brauchen.

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