Südafrika bei der Rugby-WM:Immer am Rande der Niederlage - und jetzt doch ganz oben

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Siya Kolisi stemmt zum zweiten Mal in Serie den Webb Ellis Cup in die Höhe. (Foto: Dan Sheridan/Inpho Photography/Imago)

Seit fast zwei Jahrzehnten dominieren Südafrika und Neuseeland den Rugbysport. Nun gewinnt Südafrika ein dramatisches WM-Finale - mit zwei Kapitänen im Fokus und vielen gelben Karten, die haarscharf an der Grenze zu roten waren.

Von Felix Haselsteiner

Cheslin Kolbe saß auf einem der schwarzen Stühle, die in diesem Finale der Rugby-Weltmeisterschaft von so großer Bedeutung waren, und vergrub den Kopf in seinem grünen Shirt. Die finalen Minuten dieses Turniers in Frankreich wollte sich der südafrikanische Außenspieler nicht ansehen. Er wollte nichts davon wissen, dass Neuseeland noch einmal versuchte, in die Offensive zu kommen, minutenlang um jeden Ball kämpfte und beinahe noch einmal eine Gelegenheit fand, Sekunden vor Schluss, als Kolbe mit einer gelben Karte und einer Zeitstrafe nach einem Foul nicht mehr dabei war.

Erst als das letzte Gedränge ausgefochten war und Schiedsrichter Wayne Barnes abgepfiffen hatte, hob Kolbe seinen Kopf: Die Sekunden, in denen seine Mannschaft über das Spielfeld im Stade de France stürmte und in denen parallel, zu Hause in Südafrika, eine ganze Nation diesen epochalen, triumphalen Moment zelebrierte, wollte er wiederum nicht verpassen.

Rugby-Weltmeister Südafrika
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Mit einem 12:11 wurde Südafrika am Samstagabend in Paris zum vierten Mal Weltmeister in einer Sportart, die am Kap weitaus mehr ist als ein Spiel um einen Pokal. Rugby stand einst für das Gräuel der Apartheid, für die weiße Dominanz im Land. Dann, 1995, für die neu gewonnene Einigkeit und eine besser Zukunft. Und nun? Widmete Kapitän Siya Kolisi den WM-Titel jenen Menschen in seiner Heimat, "die gerade Hoffnung brauchen": "Sobald wir zusammenarbeiten, können wir alles erreichen. Das zeigt dieses Team, auf das ich so stolz bin."

Kolisi, 32, ist endgültig im Olymp seines Sports angekommen. Neben ihm hat nur der legendäre Neuseeländer Richie McCaw das Kunststück vollbracht, seine Nation zweimal als Kapitän zu einem WM-Titel zu führen, und in gewisser Weise erzählt das einen entscheidenden Teil der Geschichte dieses Finalspiels, das eine Fortsetzung der einzigartigen sportlichen Rivalität zwischen All Blacks und Springboks war: Seit 2007 haben nur diese beiden Nationen den Webb Ellis Cup geholt. Sie bestimmen bald über zwei Jahrzehnte diesen faszinierenden Sport, den sie so meisterhaft ausüben, dass nur die kleinsten Details über Sieg und Niederlage entscheiden.

Noch nie wurde in einem WM-Finale eine rote Karte gezeigt

Symbolhaft waren im Stade de France zahlreiche solcher Szenen: Immer wieder hüpfte das nasse Rugby-Ei durch den Regen - und fiel doch meist auf die Seite der Südafrikaner, die das ganze Turnier über immer wieder am Rande der Niederlage standen und doch gewannen: Im Viertelfinale, im Halbfinale und nun auch im Endspiel gewannen sie jeweils nur mit einem Punkt Abstand.

Am Samstagabend gingen sie früh im Spiel mit drei Kicks 9:3 in Führung, vor allem aber erhielten sie in der ersten Halbzeit einen Vorteil von Gnaden der Neuseeländer: Erst musste Shannon Frizell nach einem unfairen Tackle und einer gelben Karte für zehn Minuten auf jenem schwarzen Stuhl am Seitenrand Platz nehmen. Dann auch der Kapitän der All Blacks.

Vor dem Turnier fügte Südafrika Neuseeland die höchste Niederlage seiner Geschichte zu

Sam Cane ist qua Amt der Konterpart zu Kolisi, und doch hat seine Besetzung einen völlig anderen Charakter. Der 31-Jährige ist keine strahlende Galionsfigur, sondern eher eine kritisierte Wahl, der man vor dem Turnier phasenweise gar vorwarf, seine Mannschaft eher zu schwächen als zu stärken. Im Verlauf der sieben Wochen in Frankreich dann wandelte sich Cane, er wurde zu einer Bastion in der Zentrale, bekam viel Lob in seiner Heimat - bis zu diesem verhängnisvollen Tackle in der 27. Minute: Für einen verbotenen Treffer oberhalb der Schulter seines Gegners sah er erst eine gelbe und dann eine rote Karte nach dem Einsatz des Videoschiedsrichters.

In der Geschichte des Rugbysports ist noch nie ein Spieler in einem WM-Finale vom Platz gestellt worden, und bei aller persönlicher Tragik für Cane, der vor Schmerz geradezu in sich versank und das Trauma wohl für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen wird: Für kurze Zeit musste man sich fast sorgen, dass Südafrika nun enteilen würde in diesem Finale, mit dem Vorteil eines Extraspielers. Vor dem Turnier hatten sie das schon einmal getan und einen numerischen Vorteil zu einem 35:7-Sieg über die All Blacks genutzt, deren historisch höchste Niederlage.

Enttäuscht: Sam Cane. (Foto: Dan Sheridan/Inpho Photography/Imago)

Doch konnte man diesem Finalspiel eben auch ansehen, was für eine unheimliche Energie in den schwarzen Shirts der Neuseeländer steckt, die über die Dauer der gesamten zweiten Halbzeit die bessere Mannschaft waren: Beherzt folgte Angriff um Angriff in einem wilden, unorganisierten Spiel, das beinahe von zwei Brüdern entschieden worden wäre: Erst legte Beauden Barrett den einzigen Versuch der Partie (58. Minute), dann hatte Jordie Barrett mit einem langen Kick die Chance, die All Blacks in Führung zu bringen. Doch der Ball flog knapp am linken Pfosten vorbei - an jenem, von dem zu einem früheren Zeitpunkt im Spiel der Ball nach einem südafrikanischen Kick so abgeprallt war, dass er doch noch gültig wurde.

Über den Titel entschieden also Zentimeter; es entschieden knappe, teils kontroverse Schiedsrichterentscheidungen; es entschieden die sensationellen Tackles des Südafrikaners Pieter-Steph du Toit, der zum Spieler des Spiels gewählt wurde. Und es gehört auch zur Geschichte dieses knappen Sieges, dass Kolisi und Südafrika ihre Undiszipliniertheiten nicht auf dieselbe Art und Weise bereuen mussten wie Cane und die Neuseeländer.

Kolisi lobt den Gegner, der in Unterzahl die bessere Mannschaft war

Sowohl Kolisi als auch Kolbe bekamen in der zweiten Spielhälfte gelbe Karten, die haarscharf an der Grenze zu roten waren, sie erschwerten es ihrer Mannschaft dadurch, sich defensiv den Angriffen der All Blacks zu erwehren, deren unbändiger Mut auch Kolisi beeindruckte: "Sie haben uns heute an einen dunklen Ort geführt", sagte Südafrikas Kapitän über seine Gegner. Allerdings: Kaum ein anderer Sportler auf der Welt ist so talentiert darin, seine Mannschaft trotz aller Widerstände ans Licht zu führen.

Darin steckt allerdings auch die Aufgabe für Siya Kolisi und Südafrikas Springboks, die Helden ihrer Nation: Dieser WM-Titel soll ein Zeichen dafür sein, dass es gelingen kann, die Dunkelheit zurückzulassen. Nicht nur auf dem Spielfeld.

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