Südafrikas Kolisi bei der Rugby-WM:Symbolfigur mit sehr menschlichen Schwächen

Lesezeit: 3 min

Will mit den Springboks den WM-Titel verteidigen: Kapitän Siya Kolisi. (Foto: Dan Sheridan/Inpho/Imago)

Rugby nimmt in der bewegten Geschichte Südafrikas eine besondere Rolle ein. Nationalteam-Kapitän Siya Kolisi verkörpert dieses Erbe, er kennt das Leid - und will den Menschen mit einem WM-Sieg Hoffnung schenken.

Von Felix Haselsteiner

Es ist niemals nur eine Nummer, die die Rückseite eines Shirts im Rugby ziert. Eine direkte Bedeutung haben alle von der "1" bis zur "15"; anders als etwa im Fußball stehen die Nummern im Rugby noch immer für die jeweiligen Positionen der Spieler auf dem Feld und damit auch immer für die Historie, die mit dieser Position verbunden ist. Wenn der Südafrikaner Siya Kolisi am Samstag sein Trikot mit der "6" überstreift, geht es sogar um weitaus mehr als um seine Position auf dem Feld im Finale der Weltmeisterschaft im Stade de France in Paris: Es geht um die Geschichte seines Landes - und die Position, die der 32-Jährige darin einnimmt.

Vier Jahre alt war Kolisi 1995, als das Trikot mit der Nummer sechs zu einem bedeutenden Zeichen in Südafrika wurde. Das Bild ist bis heute verewigt in der Sportgeschichte: Francois Pienaar, Kapitän der Springboks, wie Südafrikas Rugbyauswahl genannt wird, Träger der "6", mit dem WM-Pokal in der Hand. Und mit der Hand von Südafrikas Präsident Nelson Mandela auf der Schulter, der als schwarzer Präsident das Trikot des weißen Spielers Pienaar trug, um ein Zeichen zu setzen: Um die Apartheid in die Vergangenheit zu verabschieden. Ausgerechnet mithilfe von Rugby, dem historischen Sport der weißen Machthaber, die Mandela inhaftiert hatten.

1995 empfängt Springboks-Kapitän Francois Pienaar die Glückwünsche von Präsident Nelson Mandela nach dem WM-Sieg. (Foto: Imago)

Pienaar war auch im November 2019 bei den Feierlichkeiten in Port Elizabeth vor Ort, als das südafrikanische Rugby-Team heimkehrte nach seinem dritten WM-Titelgewinn. Zum ersten Mal hatte während des Turniers ein schwarzer Spieler das Trikot mit der Nummer sechs getragen und die "Boks" zum Titel geführt. Kolisi lief damals für ein Land auf, in dem die Schwierigkeiten von einst längst nicht der Vergangenheit angehören. Doch er stand mit dem WM-Pokal in der Hand für Hoffnung auf eine bessere Zukunft und wann immer Kolisi seitdem aufläuft, ist er mehr als ein Rugby-Spieler. Er ist eine Symbolfigur.

Als "typisch südafrikanische Geschichte" hat er sich einmal bezeichnet, unter anderem weil sein Lebensweg in einer Township beginnt. Außerhalb von Port Elizabeth wuchs Kolisi auf, unter den widrigsten Umständen, von denen seine Autobiografie berichtet. Mit zehn Jahren trank er erstmals Alkohol, er schnüffelte Benzin, hungerte täglich, erlebte die Kriminalität, die in den Armenvierteln herrscht.

Kolisis Karriere verläuft nicht immer geradlinig

Eine bessere Welt war weit weg, und lag doch nur knapp 15 Kilometer entfernt. Scouts entdeckten ihn als Zwölfjährigen beim Rugbyspielen im Staub, sahen das Talent in ihm. Die Grey High School, bekannt für ihr Rugby-Programm, nahm ihn auf. Kolisi verstand den Sport, aber kein Englisch, er sprach Xhosa, eine der vielen Landessprachen. Trotzdem lernte er, sich schnell zurechtfinden: Der Junge aus der Township stieg innerhalb weniger Jahre zum Nationalspieler auf, 2013 debütierte er für die Springboks, fünf Jahre später führte er sie als Kapitän an. Nicht immer war der Weg geradlinig, Alkoholeskapaden und Seitensprünge begleiteten seine Karriere.

Kolisis Geschichte ist nicht nur eine typisch südafrikanische, sie ist auch die eines sehr menschlichen Sportlers, der sich seiner Bedeutung immer mehr bewusst wurde. Keine Pressekonferenz, kein Interview nach dem Spiel ist für ihn selbstverständlich, er sieht sie immer als Plattform, um einzuordnen, was um ihn herum passiert.

Siya Kolisi ist nah dran an den Menschen aus Südafrika - nicht nur nach dem Sieg im Viertelfinale über Frankreich. (Foto: Chris Hyde/Getty)

"Die Unterstützung, die wir von den Menschen bekommen - sie alle können es sich nicht leisten, vor Ort zu sein, aber wir sehen die Videos von zu Hause, die Gesänge und Tänze: Es geht nicht um uns, es geht um unser Land und die Menschen zu Hause", sagte Kolisi nach dem Viertelfinale gegen Frankreich. Sein Credo ist, dass die Hautfarbe beim Rugby keine Rolle spielt, weder für die Spieler noch für die Zuschauer: "Man muss spielen, um für jeden Südafrikaner der Beste zu sein."

Kolisis Qualitäten als emotionaler, sportlicher Anführer und das beachtliche empathische Talent zur Menschenführung von Trainer Jacques Nienaber führen zu einer bemerkenswerten Atmosphäre rund um den Titelverteidiger. Was die Verbindung auszeichne, die zwischen dem Trainer, der Mannschaft und ihm herrsche, wurde Kolisi nach dem Halbfinalsieg gegen England gefragt. Coach Jacques und die ganze Mannschaft hätten verstanden, dass es um weitaus mehr geht als um das Spiel auf dem Feld, sagte er.

"Es geht um unsere Reise, darum, was uns bewegt", erklärte Kolisi, der seinem Trainer noch einen besonderen Dank schickte, der einiges darüber aussagt, wie tief die Emotionen bei Südafrika vor dem Finale wurzeln: "Es geht ihm um den Menschen, es geht ihm um Siya aus der Township, den er in mir hervorbringt."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Rugby-WM
:Die Wucht der Springboks

Südafrika zieht gegen aufopferungsvoll kämpfende Engländer ins Finale der Rugby-WM gegen Neuseeland ein. Erneut zeigt der Titelverteidiger, dass er sich ein einzigartiges Gefühl der Siegesgewissheit erarbeitet hat.

Von Felix Haselsteiner

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: