Finale der Rugby-WM:Armdrücken auf höchstem Niveau

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Vereint im Jubel: Südafrikas Kapitän Siya Kolisi (Mitte links) und Präsident Cyril Ramaphosa (Mitte rechts). (Foto: Getty Images)
  • Südafrika ist neuer Rugby-Weltmeister.
  • Gegen statistisch relativ ebenbürtige Engländer gewinnen die Springböcke deutlich mit 32:12.
  • Die Südafrikaner halten sich an ihre "Tradition", nur alle zwölf Jahre einen WM-Titel zu gewinnen - nach 1995 und 2007.

Von Thomas Hahn, Yokohama

Auf einmal hatte einer der Kleinsten den Ball. Winger Cheslin Kolbe misst nur 1,72 Meter, er gehört damit zu den Ausnahme-Erscheinungen im Rugby-Team von Südafrika. Als er vor dem Finale der Rugby-WM im Stadion von Yokohama, Japan, gegen England bei der Nationalhymne zwischen seinen hünenhaften Kollegen stand und die Kamera an ihren Köpfen vorbeifuhr, sah es so aus, als sei da eine Lücke in der Reihe der Springboks. Aber Cheslin Kolbe war da, er ist einer der quirligen Außen, die Südafrikas kraftvollen Stil um ein schnelles Flügelspiel bereichern. Lange hatte er auf seine Chance gewartet, fast 80 Minuten lang, und nun war sie da, kurz vor dem Ende dieses intensiven Kampfes um den wichtigsten Pokal im Rugby-Sport. Er hatte den Ball, er täuschte an, änderte blitzschnell die Richtung, kurvte an den Engländern vorbei. Es war, als würde er tanzen. Dann legte er den Ball hinter der Gewinnlinie ab, und in der Regenbogennation konnten die Feierlichkeiten beginnen. 32:12. Südafrika ist der neue Rugby-Weltmeister.

Dieser letzte gewinnbringende Einsatz des Wingers Kolbe ist einer der wenigen Momente der Leichtigkeit gewesen in einem WM-Finale zwischen Südafrika und England, das die meiste Zeit alles andere als ein Vergnügen für Freunde eleganter Tempomanöver war. Manche Medien hatten es angekündigt wie einen Actionthriller mit Gewalt, Zusammenstößen und Kawumm. Die Paarung stand für den Sieg des zupackenden Kraftrugbys über die Kunst des virtuosen Ballspiels. Denn Südafrika hatte im Viertelfinale die flinken Japaner ausgeschaltet, die Überraschungsmannschaft des Turniers, indem sie deren mitreißenden Offensivgeist mit ihrer körperlichen Überlegenheit erstickten. Und England hatte im Halbfinale mit einer epischen Kraftanstrengung den Titelverteidiger auflaufen lassen, Neuseelands All Blacks, die prominentesten Vertreter des schönen, anspruchsvollen, immer auf Trys zielenden Spiels. Dieses Finale war somit ein Treffen der weltbesten Rugby-Handwerker, und damit für viele Kenner des Sports eine besonders spannende Angelegenheit.

Die Folgen des Neuseeland-Sieges

Die Rugby-Teams von Südafrika und England stehen für die Lehre vom reinen Streit der Körper, den zunächst kein falscher Schnörkel stört. Englands Defensiv-Coach John Mitchell, ironischerweise ein Neuseeländer, beschrieb die Ausgangslage vor dem WM-Finale am anschaulichsten, als er sagte: "Wir werden die beiden kraftvollsten Rugbyteams der Welt erleben. Über die Gewinnlinie zu kommen, wird extrem schwierig."

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Und so wurde dieses Finale dann auch eine Art Armdrücken auf höchstem Niveau, bei dem Südafrika von Anfang an im Vorteil zu sein schien. Konter und überfallartige Attacken gehörten zu den Mitteln, mit denen sich Englands Mannschaft auf dem Weg ins Finale gegen Ballbesitz-Teams wie Australien und Neuseeland durchsetzte. Aber mit schierer Wucht Schockmomente zu schaffen gegen einen spielbestimmenden Gegner, funktionierte gegen die Südafrikaner von Chefcoach Rassie Erasmus nicht, weil die selbst nicht den Anspruch haben, in Schönheit zu gewinnen.

Mitte der ersten Halbzeit hatten die Engländer mal eine starke Phase, in der sie den Ball nah an die Endzone der Südafrikaner trugen. Kurz vor der Gewinnlinie tobte ein Gewühl aus weißen und grünen Leibern, es war, als könnte Schiedsrichter Jérôme Garcès aus Frankreich jederzeit den Arm heben, um den ersten Try der Partie anzuzeigen. Aber die südafrikanische Abwehr funktionierte. Die Engländer konnten den Wall der Südafrikaner nicht überwinden. Am Ende sprang für sie nicht mehr heraus als ein Penalty-Kick, den Kapitän Owen Farrell sicher in drei Punkte verwandelte. 6:6 stand es da. Aber Südafrikas Team erzwang mehr Fouls. Zur Pause stand es 12:6. Oder anders gesagt: 4:2 Penalty-Treffer.

Den Ball hinter die Endlinie des Gegners zu tragen, ist das eigentliche Ziel des Rugbysports. Wenn es gelingt, ist das so ähnlich wie der Moment, in dem im Fußball ein Tor fällt, ein erhabener Augenblick, in dem alle Bemühungen in der Freude über den zählbaren Erfolg münden. Im Rugby kann man Spiele auch ohne den Anspruch gewinnen, solche Augenblicke herzustellen. Und genau daran arbeitete Südafrikas Mannschaft mit mehr körperlicher Präsenz, als die Engländer das taten. Warren Gatland, der Coach des WM-Vierten Wales, hatte vor dem Finale laut darüber nachgedacht, ob die Engländer gegen Neuseeland ihre Kraft verschossen haben könnten. "Für sie ging es darum, ins Finale zu kommen", sagte Gatland nach dem verlorenen Halbfinale gegen Südafrika, "Es wird interessant, England nächste Woche zu sehen." Als Englands australischer Chefcoach Eddie Jones auf Gatlands Meinung angesprochen wurde, antwortete er trocken: "Grüßen Sie Warren, er soll zusehen, dass er ein schönes Spiel um Platz Drei hat."

Aber hatte Gatland nicht Recht? Hatte Jones' Team nicht die außergewöhnlichste Leistung schon erbracht, als es die All Blacks bezwang? Die Südafrikaner konnten ihr Spiel jedenfalls durchziehen. Lange kamen sie nicht einmal in die Nähe der englischen Endzone, dafür erzwangen sie diverse Fouls im mittleren Teil des Feldes. Kick-Spezialist Handre Pollard erzielte auch in der zweiten Halbzeit ein Penalty-Treffer nach dem anderen. Resignation und Müdigkeit schienen allmählich die Entschlossenheit der Engländer aufzuzehren, und in der 67. Minute hatten die Südafrikaner dann plötzlich die Lücke gefunden. Auf links. Schöne Ballstaffette, Winger Makazole Mapimpi vollendete. 25:12. Im Grunde war das die Vorentscheidung. Die Engländer senkten die Köpfe, und wenig später setzte Cheslin Kolbe zu dem Tanz an, der diesen großen südafrikanischen Sieg endgültig besiegelte. "Die Jungs haben an sich geglaubt", lobte Coach Erasmus.

Kolisi ist der erste schwarze Kapitän, der mit Südafrika den Titel holt

"Wir sind sehr enttäuscht", sagte England-Coach Eddie Jones, ohne den Wert des Silberranges herunterspielen zu wollen. "Wir sind das zweitbeste Team der Welt, Mann." Die Frage nach den Folgen des Neuseeland-Sieges kam wieder auf nach dem Spiel. Eddie Jones fand den Gedanken jetzt nicht mehr so schlecht. "Das könnte einen Effekt gehabt haben, ich weiß es nicht", sagte er, "ich weiß nicht, warum wir heute nicht gut gespielt haben, es passiert manchmal einfach."

Umso tiefer empfanden die südafrikanischen Spieler das Glück, den Webb-Ellis-Pokal stemmen zu dürfen. Dieser dritte Rugby-WM-Titel war etwas Besonderes, des bezeugte vor allem Siya Kolisi. 25 Jahre nach dem endgültigen Ende der rassistischen Apartheid-Politik in Südafrika ist Kolisi der erste schwarze Kapitän der Springboks. Er kommt aus ärmlichen Verhältnissen, er kennt die Kämpfe im südafrikanischen Alltag, und er fand nach dem Sieg die richtigen Worte, als er sagte: "Wir haben so viele Probleme in unserem Land, und ein Team wie dieses. Wir haben verschiedene Geschichten, verschiedene Hautfarben - und wir sind zusammengekommen mit einem Ziel. Ich hoffe wirklich, dass wir das für Südafrika geschafft haben, um zu zeigen, dass wir an einem Strang ziehen können, wenn wir etwas erreichen wollen."

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