Reservespieler in der DFB-Elf:Jede Minute in größter Alarmbereitschaft

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Julian Draxler sitzt beim Vorbereitungsspiel gegen Kamerun in Mönchengladbach auf der Bank. (Foto: Bongarts/Getty Images)

Bundestrainer Joachim Löw glaubt, dass den Einwechselspielern wegen des Wetters bei dieser WM eine größere Rolle zukommt als je zuvor. Julian Draxler zum Beispiel sieht seine Chance als "Waffe" von der Bank. Doch nicht alle DFB-Spieler eignen sich als Joker.

Von Philipp Selldorf, Santo André

Julian Draxler hat schnell Karriere gemacht im Fußball, seit er Anfang 2011 als 17-Jähriger das erste Mal für die Profimannschaft des FC Schalke 04 gespielt hat. "In den ersten Jahren hat alles super funktioniert, ich war der Newcomer, es ging ständig nach oben", sagt er. Aber in der vorigen Saison stagnierte sein Aufstieg, und deswegen beschloss Draxler im Winter, sein Spiel zu reformieren. Er nahm sich vor, mehr zu laufen, mehr zu verteidigen, mehr für die Mannschaft zu tun. Doch die guten Vorsätze hatten eine Kehrseite: "Durch die hohe Laufarbeit und das viele Arbeiten auf dem Platz ist mir die Leichtigkeit abhanden gekommen. Nun konnte mir zwar niemand mehr vorwerfen, dass ich die Wege nicht mehr mache", erzählt Draxler, "aber die Leute haben gesagt: Jetzt fehlt der Spielwitz."

Draxler, 21, kann jetzt entspannt darüber sprechen, er sitzt auf der Terrasse eines Hotels in Santo André, Bahia, wo sich die Nationalmannschaft niedergelassen hat. Links ist ein Swimmingpool, rechts ist noch ein Swimmingpool, und ein paar Meter weiter glitzert der Ozean. Im tropischen Garten hüpfen Vögel umher, die der liebe Gott mit einer ganzen Schachtel Buntstifte bemalt hat. Dass er es tatsächlich schaffen würde, an diesen Ort zu kommen, darum hat Draxler bis zum Schluss der Nominierungsfrist bangen müssen. Als er dann erfuhr, dass er dem WM-Aufgebot angehören wird, "da ist viel Ballast von mir abgefallen - ich wusste natürlich, dass mein Platz alles andere als bombenfest ist". Seine Saison, das sagt er selbst, war nicht gut, "es war allerhöchste Eisenbahn, dass ich zum Schluss noch mal eine Leistungsexplosion bekommen habe".

"Nicht zum Urlaub machen" hier

Immerhin konnte der Schalker Flügelspieler darauf vertrauen, dass der Bundestrainer gewisse Pläne mit ihm hatte. Joachim Löw hatte ihn vor einigen Monaten mit Hinweisen ermutigt, "wie er mich sehen will, wie er mich hier in Brasilien braucht". In den Augen der meisten Beobachter wird Draxler in Brasilien vor allem als Reservist benötigt, er selbst legt allerdings Wert darauf, dass er "nicht zum Urlaub machen" ins Land gekommen sei. Er weiß zwar, dass er am Montag nicht in der Startelf stehen wird, wenn Deutschland gegen Portugal spielt, aber er hat eine These entwickelt, die seinem Dasein einen Sinn gibt und ihn auf Einsätze hoffen lässt: "Ich bin fest davon überzeugt, dass Spiele bei dieser WM von der Bank entschieden werden, wenn die vermeintlich erste Elf müde ist oder sie den Gegner müde gespielt hat", sagt er.

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Mit dieser These haben sich auch andere deutsche Wissenschaftler schon beschäftigt. Kapitän Philipp Lahm hat gesagt, es werde wichtig sein, "dass bei dieser Hitze Spieler in der 60., 70. Minute kommen. Ich glaube, dass viele Spiele bei dieser WM nach hinten raus entschieden werden." Hier hat sich offenbar ein erkenntnistheoretischer Konsens gebildet: Die Reservebank und die Einwechselspieler haben nach Ansicht der DFB-Forscher bei diesem Turnier, bei der sogenannten "WM der Strapazen", mehr Bedeutung als jemals vorher. Der Chefideologe Löw entwirft das Szenario von einer im Zenit stehenden Mittagssonne, die während der Spiele den Fußballplatz in Flammen setzt, und er hat daraus die Idee entwickelt, dass viele Spiele in ihrem weiteren Verlauf "in eine zweite Phase" eintreten werden. Deshalb meint er, dass der Tausch des Personals ein herausragend wichtiges strategisches Mittel wird: "Es wird so sein, dass die drei Einwechselspieler eine besondere Verantwortung haben - sie ersetzen nicht nur einen Spieler, sie haben die Verantwortung, uns neue Energie zu geben. Im Zweifel sind das die Spieler, die den Unterschied machen."

Keine Stammspieler - sondern WM-Teilnehmer

Manche Spieler, Draxler etwa oder der Gladbacher Mittelfeldspieler Christoph Kramer oder der Dortmunder Außenverteidiger Erik Durm, dürfen solche Aussagen als Ermutigung auffassen. Der eine oder andere Etablierte könnte hingegen erleben, dass er häufiger als erwartet auf der Bank sitzen bleibt, wenn Löw, so wie er es ankündigt, besonders spontan und flexibel mit seinen personellen Kapazitäten umgeht. "Entscheidend ist für mich als Trainer: Was ist in der jeweiligen Situation gegen den jeweiligen Gegner am effektivsten?", sagt der Bundestrainer.

Manche Spieler eignen sich weniger zum Einwechseln, Sami Khedira zum Beispiel; Bastian Schweinsteiger hingegen hat - auch wegen seiner Krankengeschichte - das Pech, dass er sich für Einwechslungen in bestimmten Situationen besonders gut eignet. Etwa, wenn das Spiel beruhigt und unter Kontrolle gebracht werden soll. Dass einer wie Schweinsteiger mit dieser Spezialistenrolle am Rande nicht glücklich werden kann, das weiß Löw natürlich. Vorbeugend proklamiert er, dass alle Menschen gleich seien in seinem Aufgebot: "Ich habe keine Stammspieler, ich habe WM-Teilnehmer", sagt Löw, "ich brauche Spieler, die alle jederzeit, jede Sekunde, jede Minute in größter Alarmbereitschaft sein müssen."

Julian Draxler ist für solche Worte gern empfänglich, er sieht in der Reserverolle seine Chance. "Ich kenne mein Rundumpaket", sagt er, "ich glaube, dass ich eine Waffe bin."

© SZ vom 14.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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