Radprofi Thibaut Pinot:Der Flummi des Pelotons

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Romantiker auf dem Rad: Thibaut Pinot gewinnt 2023 noch einmal den Bergpreis des Giro - gegen den auf Perfektion getrimmten Spitzensport. (Foto: Sirotti Stefano/Imago)

Er war das größte französische Radsporttalent seiner Generation: Thibaut Pinot. Nie gewann er die Tour - aber sein beständiges Scheitern hat ihn in der Nation umso beliebter gemacht. Eine Würdigung zu seinem letzten Rennen.

Von Jean-Marie Magro

Das Phänomen Thibaut Pinot ist eines, dem man sich annähern, das man aber wohl nie ganz verstehen kann. Warum stellen sich Hunderttausende auf die Straßen, um einen kurzen Blick auf den Radfahrer zu werfen, der seinen gebückten Oberkörper bei jedem Pedaltritt ruckartig vor- und zurückbewegt? Warum diese Gänsehaut, als er einbog in die "Virage Pinot", die Pinot-Kurve am Petit Ballon auf der vorletzten Etappe der diesjährigen Tour?

"Pinot gewinnt keine Rennen, die gleichgültig sind", sagt der Manager Marc Madiot. Da hat der manchmal schroffe, manchmal weiche Mann aus der Mayenne recht. Siege auf der Alpe d'Huez, dem Tourmalet oder den Lagos de Covadonga lassen keinen kalt, der den Radsport liebt. Doch man könnte den Satz Madiots erweitern, man könnte sagen: Nichts, was Thibaut Pinot seinen Fans, seiner Mannschaft und auch ihm, Marc Madiot, zumutete, hat all diese Leute jemals gleichgültig gelassen.

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Im Alter von 22 Jahren debütierte Pinot 2012 bei der Tour de France. Der L'Équipe-Journalist Anthony Clément, der ihm beim Packen seiner Tasche zusehen durfte, erzählte später, wie er mit Pinot zusammen eine Folge "Plus belle la vie" schaute, so etwas wie die "Lindenstraße", nur mit Blick auf die Côte d'Azur. Der damals jüngste Fahrer im Peloton gewann eine Etappe im schweizerischen Porrentruy, wo Manager Madiot ihn so energisch anfeuerte, dass er fast die Autotür zertrümmerte. Nach Jahrzehnten hatten die Franzosen endlich einen jungen Mann, der alle körperlichen Voraussetzungen mitbrachte, um die Tour zu gewinnen. Jedoch - hätte, hätte, Fahrradkette.

Kaum ein Fahrer arbeitete so intensiv an seinen Schwächen wie Pinot. 2013 aber verlor er jede Hoffnung auf ein gutes Ergebnis bei der Tour, weil er im Col de Pailherès in den Pyrenäen vier Minuten auf die Favoriten verlor - in der Abfahrt wohlgemerkt, vor der er sich wie "vor Spinnen" fürchtete. Im Winter spendierte Madiot ihm Fahrstunden in einem Rallyeauto, mit dem er Alpenpässe im Schnee hinunterdriftete. "Heute redet niemand mehr über seine Abfahrerqualitäten", sagt Madiot.

Triumph und Scheitern: Thibaut Pinot, auf der Höhe seiner Schaffenskraft, bewältigt 2019 bei der Tour am schnellsten den brutalen Aufstieg zum Tourmalet - und sitzt zwei Tage vor dem Finale verletzt und weinend im Hotelzimmer. (Foto: Anne Christine Poujoulat/AFP)

Auch im Zeitfahren machte Pinot beträchtliche Fortschritte. 2015, als er früh die Hoffnung auf ein gutes Gesamtergebnis verlor, gewann er die spätere Etappe zur Alpe d'Huez. Die Liste solcher Comebacks lässt sich fortsetzen: 2018, beim Giro d'Italia, lag er am Tag vor der Ankunft in Rom auf Podiumskurs - am Abend dann im Spital: Lungenentzündung. Vier Monate später gewann er zwei Etappen bei der Spanienrundfahrt, den Klassiker Mailand-Turin und eines der fünf sogenannten Monumente, die Lombardei-Rundfahrt. Die Resilienz Pinots ähnelte einem Flummi: Wirft man ihn zu Boden, so springt er genauso schnell wieder zurück.

Den Höhepunkt fand dies bei der Tour de France 2019. Pinot, damals 29 und auf der Höhe seiner Schaffenskraft, sagte vor dem Start in einem Interview mit L'Équipe, eines Tages würden "die Planeten eine Linie bilden" - und er eine Grand Tour gewinnen. Zwar verlor er auf einer Flachetappe nach Albi wegen einer Windkante den Anschluss zum Feld, doch mutmaßlich auch die Wut auf sich selbst trieb ihn in den Pyrenäen zu Höchstleistungen. Am Tourmalet triumphierte Pinot. Am Tag später, hinauf zum Prat d'Albis, war er erneut der Schnellste der Favoriten. Der Letzte, der ihm noch folgen konnte, Egan Bernal, sah auf seinem Radcomputer: Die Werte, die der Franzose trat, konnte er nicht halten.

"Das war der schönste Sommer der vergangenen Jahre", sagt Antoine Vayer, ehemaliger Trainer bei Festina und einer der bekanntesten Doping-Ankläger im Radsport. Endlich war ein sauberer Fahrer drauf und dran, die Tour zu gewinnen, so sah das sogar Vayer.

Es war bei Pinot, wie Nietzsche sagte: Der schlimmste Feind, dem du begegnen kannst, wirst immer du selbst sein

Doch im Falle Pinots kehrte sich Hoffnung nicht selten ins brutale Gegenteil: Zwei Tage vor Schluss steigt er mit einer Muskelverletzung aus. Gerade noch Favorit, Erlöser der Franzosen, Stunden später sitzt er weinend auf dem Bett im Hotelzimmer. "Ich höre auf. Ich will nicht mehr", sagt er zu Madiot, seinem Vertrauen, wie die Kameras des französischen Fernsehens zeigen. Madiot redet ihm zu, irgendwann werde das Schicksal ihm zulächeln. Doch die vielleicht größte Schwäche dieses Ausnahmefahrers ist seine feste Überzeugung, dass ihm trotz aller Arbeit und Entbehrungen immer etwas dazwischenkommen werde. Wie Nietzsche sagte: Der schlimmste Feind, dem du begegnen kannst, wirst immer du selbst sein.

"Das Schöne bei ihm ist, dass er sich nicht als Roboter durch diese Radsportwelt bewegt", erklärt Jean-Claude Leclercq, langjähriger Radsportexperte bei Eurosport. Leclercq kennt Lure, Pinots Heimat, gut, seine Mutter lebt dort. Als Leclercqs Vater begraben wurde, hatte er Kontakt mit dem Bestatter Régis Pinot, dem Vater und heutigen Bürgermeister von Mélisey.

Der Schmerzensmann: Pinot Thibaut stürzt 2020 schon auf der ersten Etappe der Tour - der nächste Rückschlag. (Foto: Panoramic/Imago)

Es ist eine wunderschöne Region in den Vogesen. Pinot, heute 33, trainiert in den Bergen, er angelt dort, um auszuspannen, kümmert sich um die Zicklein und Esel auf seinem Anwesen oder spielt eine Partie Pétanque. Er ist Fußballfan, PSG-Ultra, stellt sich im Parc des Princes in die Kurve, hält Transparente und Fahnen hoch und wundert sich, wenn er dort erkannt wird. Hatte er Zeit, fuhr er übers Wochenende nach Dortmund, um die Gelbe Wand zu bestaunen, oder zum Mailänder Stadtderby ins San Siro. Wenn er mal keine Rennen fuhr, kickte er in einer Freizeitliga auf Kartoffeläckern gegen die Feuerwehrleute aus dem Nachbarort. "Es schien nicht immer seine Priorität zu sein, schnell Rad zu fahren", sagt TV-Kommentator Leclercq.

Heutzutage trainieren im Radsport schon Teenager mit Powermetern, lassen sich regelmäßig ins Ohr piksen, um ihre Laktatschwellen zu testen - und auf der anderen Seite sitzt Thibaut Pinot am See mit seiner Angelrute. Während Jumbo-Visma über 50 Analysten beschäftigen soll, weigerte sich der Franzose jahrelang, eine Sauna in sein Haus zu bauen. Hat Pinot sich also selbst weiterer Siege beraubt, weil er nicht professionell genug war, nicht den Schritt ins Ausland wagte? "Ich würde es um 180 Grad drehen", sagt Leclercq: "Er hat so wunderbare Leistungen bringen können, weil er wusste, dass er genau dort hingehört."

Hätte er sich öfter Schmerzmittel gespritzt, seine Karriere wäre wohl anders verlaufen

Im September 2020 brach dann allerdings die schwärzeste Zeit in der Karriere Pinots an. Er war zwar wieder gut in Form, wurde Zweiter beim Critérium du Dauphiné. Doch während der ersten Etappe der Tour de France, auf den spiegelglatten Straßen Nizzas, stürzte Pinot und zog sich eine Rückenverletzung zu. Das Rennen beendete er, doch die Schmerzen verließen ihn eine Weile nicht. Nach vielen Monaten, in denen er kaum Rad fahren konnte, ließ er sich laut eigener Aussage zum ersten Mal ein Schmerzmittel spritzen. Ein unglaublicher Effekt, wie er feststellte. Hätte er dies öfter getan, sagte er, seine Karriere wäre wohl anders verlaufen.

Aufgehört hat Pinot nach der Verletzung nicht. Der Flummi des Pelotons sprang ein letztes Mal zurück. An diesem Samstag allerdings ist es so weit, noch einmal fährt Thibaut Pinot die Lombardei-Rundfahrt, 238 Kilometer von Como nach Bergamo. Dann sagt er Adieu.

Am glücklichsten war Thibaut Pinot in seiner Laufbahn vermutlich in der vergangenen Saison, als er beim Giro den Bergpreis gewann und Fünfter der Gesamtwertung wurde, als er bei der Tour fast ein Wunder in den Vogesen vollbrachte: Es war nicht schlimm, dass er bei der Ankunft am Markstein nicht gewann. Auch wenn auf seinem Arm der Spruch "Solo la vittoria e bella" tätowiert ist, nur der Sieg ist schön. Nach der Etappe redete niemand über den Sieger Tadej Pogacar, sondern alle über die Gänsehaut, die ihnen Thibaut Pinot und dessen Fans verschafft hatten.

Möchte man es pathetisch formulieren, so war es vielleicht der größte Sieg, den er erringen konnte: der freie Thibaut Pinot gegen den auf Perfektion getrimmten Spitzensport. Nicht grundlos heißt eine soeben erschienene Biografie über Pinot "Le dernier des romantiques", der letzte Romantiker.

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