Radrennen Paris - Roubaix:Willkommen bei den Verrückten

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Wegen der Pandemie fand Paris - Roubaix im Vorjahr statt im April im Herbst statt. Da waren dann die Wetterbedingungen dann noch extremer als sonst. (Foto: Arne Mill/Imago)

Frankreich hat zum Norden des Landes ein spezielles Verhältnis. Nur einmal im Jahr bietet die Region Spektakel: beim Kopfstein-Klassiker Paris - Roubaix. Über ein Radrennen, das ohne die menschliche Unvernunft nicht erklärbar ist.

Von Jean-Marie Magro

"Die Hölle, das sind die Anderen." Der Satz von Sartre prägt den Existenzialismus. Aber immer dann, wenn der Radsport-Klassiker Paris - Roubaix ansteht, ist es angezeigt, diese Worte ein wenig abzuwandeln: Die Hölle, das sind die Pavés , im Norden Frankreichs, die berüchtigten Kopfsteinpflaster.

In Frankreich spotten sie gerne, dass der Norden des Landes etwas anders tickt. Einer der größten Erfolge des französischen Kinos gründet auf dieser Auseinandersetzung zwischen dem Norden und dem Rest. In "Willkommen bei den Sch'tis" wird ein eingebildeter Geschäftsmann aus dem Süden in den Norden versetzt. Am Anfang ist er noch verzweifelt über den Dialekt, den die Menschen dort sprechen, über deren Essgewohnheiten, über deren ganze Art zu leben. Doch mehr und mehr verliebt er sich in die Region.

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Der Italiener sei nach bangen Momenten bei der Katalonien-Tour jedoch wohlauf, heißt es am Dienstag. Weitere Untersuchungen sollen folgen.

Der Norden, da kommen die abgehärteten industriellen Arbeiter her. Es ist gerade der Norden, der durch die Deindustrialisierung Frankreichs gelitten hat. Früher waren hier noch die Kommunisten erfolgreich. Seitdem diese ab den 80er-Jahren mehr und mehr verschwanden, legten die Rechtsextremen um Jean-Marie und insbesondere später um Marine Le Pen zu. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag war Le Pen vor allem im Norden erfolgreich und legte damit den Grundstein für ihren Einzug in die Stichwahl.

Eine der wenigen Ausnahmen war Roubaix. Die Stadt mit fast 100 000 Einwohnern erlebte in den vergangenen Jahren ein Comeback der Textilindustrie. Die Wahlbeteiligung lag in Roubaix zwar weit unter dem Landesdurchschnitt, doch der Linksaußen-Kandidat Jean-Luc Mélenchon holte hier mit Abstand die meisten Stimmen, danach kam Amtsinhaber Emmanuel Macron und erst dann Le Pen.

Die Gastgeber warten seit 1997 auf einen französischen Sieger

Auf Roubaix, auf den Norden wird in Frankreich sehr selten geschaut. Die Region gehört, möchte man es spöttisch formulieren, zur "France profonde", zur Provinz, die die Pariser kaum interessiert. Es ist dort oft kalt und nass und grau. Nur einmal im Jahr, da bietet der Norden ein Spektakel, nämlich dann, wenn wie an diesem Ostersonntag Paris - Roubaix zur Aufführung kommt.

Nur wenige Menschen wissen so viel über dieses Rennen wie Marc Madiot, der Sportliche Leiter des Teams Groupama-FDJ, der an diesem Samstag 63 Jahre alt wird. Madiot ist Kult, er hat wegen seiner emotionalen Beiträge über die Radsportgemeinde hinaus einen Youtube-Hit nach dem anderen gelandet. Er lässt sich vor allem bei der Tour de France immer wieder von einem Kamerateam begleiten und erzeugt dabei nahezu jedes Jahr Aufsehen: Madiot beim Weinen. Madiot beim Lachen. Madiot beim Brüllen.

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In Roubaix gewann er als Amateur, zweimal bei den Profis, und in seiner Debütsaison als Sportchef siegte sein Fahrer Frédéric Guesdon. 1997 war das, vor 25 Jahren; Guesdon ist der letzte französische Fahrer, der den prestigeträchtigen Klassiker für sich entschied. Wenn Paris - Roubaix vor der Tür steht, sagt Madiot, dann ziehe man in den Krieg. Kein Rennen verlangt den Profis so viel ab wie die "Hölle des Nordens". "Wenn Sie Paris - Roubaix gefahren sind, dann merken Sie am nächsten Tag, dass Sie wirklich Paris - Roubaix gefahren sind", sagt Madiot schnörkellos cool.

Im Vorjahr war es wegen der pandemiebedingten Verlegung in den Herbst besonders wild

Das Rennen ist ein Beweis für die menschliche Unvernunft. Auf Rädern um die Wette fahren: schön und gut. Sich dabei mit einem Dutzend anderen Verrückten in den Zielsprint werfen; einen Berg so lange hochquälen, bis man erbricht; sich mit mehr als 100 Stundenkilometern in eine Abfahrt stürzen - darüber lässt sich vielleicht noch diskutieren. Aber rund sechs Stunden bei oft wechselhaftem und bisweilen gar apokalyptischem Wetter miese nordfranzösische Straßen zu bezwingen, von denen mehr als 50 Kilometer mit klobigem Kopfsteinpflaster bestückt sind: Dafür muss man schon mehr als nur verrückt sein.

Das sah sogar der fünfmalige Tour-de-France-Sieger Bernard Hinault so, der in Roubaix einmal gewann und trotzdem mit heftigem Vokabular ("Une course de merde") darüber schimpfte. Paris - Roubaix ist gemessen am sportlichen Unterhaltungswert wie die Streif in Kitzbühel, nur länger und mit Kollateralschäden.

Bei der letzten Austragung, die wegen der Pandemie nicht wie sonst im April, sondern im Herbst stattfand, regnete es so stark, dass an manchen Stellen auf dem Kopfsteinpflaster die Fahrer in eine Pfütze abtauchten und wie ein Delfin wieder emporsprangen. Im Ziel sah der Sieger Sonny Colbrelli so aus, als sei er gerade bei einem Lehrgang der Bundeswehr eine Woche lang im Sumpfgebiet ausgesetzt worden. Der französische Bergspezialist des deutschen Teams DSM, Romain Bardet, sah das Rennen am Fernseher und twitterte, nun werde es ein zweigeteiltes Peloton geben: eines, das bei Paris - Roubaix 2021 mitgefahren ist. Und den Rest.

Der Niederländer Mathieu van der Poel gilt in diesem Jahr als Topfavorit

Dieses Jahr heißt der große Favorit Mathieu van der Poel, der kürzlich die Flandernrundfahrt gewann. Van der Poels Mutter ist Französin, der 27-Jährige ist der Enkel von Raymond Poulidor, dem "ewigen Zweiten" der Tour de France. Die Franzosen sind in diesem Jahr auch wieder eher Außenseiter. Die größten Chancen für die Gastgeber-Nation hat vielleicht noch Christoph Laporte, der im Winter zur niederländischen Jumbo-Visma-Equipe wechselte und eine bemerkenswerte Leistungssteigerung hinlegte.

In Marc Madiots Team, das in den meisten Fällen französischen Fahrern den Vorzug für die Führungsrolle gibt, ist dieses Mal der Schweizer Stefan Küng Kapitän. Madiot, der patriotische Emotionsmensch, hat ein großes Faible für Traditionen. Er und sein Bruder wurden jeweils einmal französischer Straßenmeister. Wer dies schafft, darf ein Jahr lang ein Trikot in den Nationalfarben tragen. Der Respekt der Madiots für dieses Trikot ist so groß, dass der sonst so präsente Sponsor Groupama-FDJ nur kleingedruckt auf dem Kragen des Maillots zu sehen ist, wenn ein Fahrer ihrer Mannschaft das Privileg des Meistershirts genießt. Sonst nehmen Sponsoren einen unübersehbaren Platz im Radsport ein.

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Madiot ist allerdings auch offen für Experimente. Schon als aktiver Fahrer sprintete er bei einem Showrennen mit einem Pferd um die Wette. Nun, im Jahr 2022, schaltet sich der Streamingriese Netflix in den Radsport ein. Angelehnt an die Formel-1-Serie "Drive to survive" sollen acht Teams bei der Tour de France begleitet werden, darunter auch Madiots Equipe. Die Dreharbeiten haben bereits angefangen, und Madiot berichtete mehr oder weniger amüsiert, dass die Verantwortlichen eine Konkurrenz zwischen seinen beiden größten Hoffnungen für die Gesamtwertung aufzubauen versuchten: dem jungen bretonischen Bergspezialisten David Gaudu und dem etwas älteren Kletterer aus den Vogesen, Thibaut Pinot.

Madiot sagt, er sei absolut "zen". Nichts könne ihn aus der Ruhe bringen. In Frankreich nimmt man schon Wetten an, wann der Vulkan aus der Loire das nächste Mal ausbricht. Vielleicht schon an diesem Sonntag in Nordfrankreich.

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