Mailand - San Remo:Er stürzt sich den Berg hinab

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Entschlossener Antritt: Matej Mohoric, diesjähriger Sieger von Mailand - San Remo. (Foto: LaPresse/Imago)

Matej Mohoric erfand eine schnellere Abfahrtstechnik - bis sie verboten wurde. Nun gewinnt der Slowene den Klassiker Mailand - San Remo und gibt einen Vorgeschmack auf die Duelle, die den Radsport bei der Tour de France erwarten.

Von Jean-Marie Magro, San Remo/München

Möchte man die Fahrt des Matej Mohoric mit einer Radsportphilosophie überschreiben, so hilft ein französisches Sprichwort weiter, das da lautet: "Ça passe ou ça casse." Ein Satz, der sich für Rennradfahrer am besten so übersetzen lässt: Entweder haut es hin - oder es haut mich hin.

Mailand - San Remo, das 300 Kilometer lange Rennen, das aus dem industriellen Norditalien hin zur Sonne, zum Mittelmeer führt, ist das erste der fünf Monumente des Jahres, also der wichtigsten Ein-Tages-Klassiker des Radsports. In den vergangenen Jahren konnte man, wenn man sich nur für den Sport interessierte, getrost erst in den letzten zehn Minuten der Veranstaltung einschalten. Bis dahin war die hoffnungslose Ausreißergruppe eingefangen, das Peloton kompakt, und dann ritt im Poggio, dem kurzen Anstieg vor San Remo, der Franzose Julian Alaphilippe eine Attacke. Alaphilippe wurde dann von einer mehr oder weniger großen Gruppe eingeholt und es kam zum Sprint. Dieses Jahr aber fehlte der amtierende Weltmeister wegen einer Bronchitis.

Stattdessen wurde der Rennverlauf auf den Kopf gestellt. Schon wesentlich früher, in der Cipressa, dem schwersten Berg auf der Strecke, wies Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar seine Kollegen des UAE Team Emirates an, ein hohes Tempo anzuschlagen. An der Arbeit beteiligte sich auch das Team Jumbo-Visma des dreimaligen Vuelta-Siegers Primoz Roglic und des Tagesfavoriten Wout van Aert. Es könnte ein Vorgeschmack gewesen sein auf das, was im Sommer bei der Tour blühen wird: ein Duell zweier Mannschaften in weißen und gelben Trikots - mit zwei überragenden Slowenen.

Doppel-Tour-Sieger Pogacar, mit 23 immer noch zu den Nachwuchsfahrern zählend, feierte in diesem Frühjahr schon beängstigend krachende Erfolge. Beim Ein-Tages-Rennen Strade Bianche setzte er 50 Kilometer vor dem Ziel eine Attacke und ward nie wieder gesehen. Vergangene Woche ließ er beim Etappenrennen Tirreno-Adriatico der Konkurrenz ebenfalls keine Chance. Pogacar scheint dieses Jahr noch dominanter zu sein, noch selbstbewusster und den Rest des Pelotons noch mehr zu zermalmen.

Mohoric fährt ab, als säße er an der Spielkonsole

Mit diesem Selbstbewusstsein griff der Slowene im letzten Anstieg, dem Poggio, an. Einmal, zweimal, dreimal. Immer wieder folgten ihm aber die starken, jeweils mehrmaligen Cross-Weltmeister van Aert und Mathieu van der Poel, die auf der Zielgeraden mehr PS auf die Straße bringen als Pogacar. Der setzte sich anfangs der Abfahrt kurzzeitig an die Spitze - bis Mohoric mit einer Risikobereitschaft, als würde er gerade nicht im Sattel, sondern vor der Spielkonsole sitzen, an ihm vorbei rauschte.

Mohoric hat etwas noch Rareres als den Gewinn einer olympischen Goldmedaille vollbracht. Es wurde eine Art Sitzposition nach ihm benannt. Mohoric fiel schon zu Juniorenzeiten damit auf, dass er während der Abfahrt nicht etwa auf dem Sattel saß, sondern seine Sitzknochen auf dem Oberrohr des Rahmens ablegte, die Sattelspitze drückte in den Rücken. So machte er seinen Körper so klein, dass er den Windwiderstand minimierte. Später kopierten viele diesen Abfahrtsstil. Der Weltverband UCI verbot allerdings ab der Saison 2021 die "Position Mohoric" unter anderem mit der Begründung, dass sie ein gefährliches Beispiel für den Nachwuchs darstelle.

Trotz sicherer Position verabschiedete sich Mohoric in der Abfahrt des Poggio zweimal fast in den Straßengraben, rettete sich aber jeweils mit beeindruckenden Steuerkünsten. Auf dem letzten Flachstück angekommen, der Via Roma, legte er eine dicke Übersetzung auf und trat zwar nicht mehr flüssig, dafür aber mit maximaler Kraft. Die Verfolger wiederum einigten sich nicht auf eine gemeinsame Jagd. Zu groß war die Gruppe, zu unterschiedlich die Kräfteverhältnisse im Sprint. In der letzten Linkskurve rutschte ihm sogar noch die Kette durch, er fing sie aber wieder ein. Fast holte ihn auf den letzten Metern der noch von hinten ausgerissene Franzose Anthony Turgis ein.

Mohoric deutete bei seinem Jubel auf der Ziellinie auf seinen Sattel. Um in der Abfahrt das aerodynamisch bestmögliche Ergebnis zu erhalten, hat Mohoric eine verstellbare Sattelstütze eingebaut: "Ich konnte jetzt selbst mit einer Fingerbewegung am Schalter einstellen, ob ich tiefer oder höher sitze. Das sorgt einerseits für eine aerodynamischere Position und andererseits für mehr Sicherheit, wenn ich den Sattel wieder nach oben fahre", sagte Mohoric nach dem Rennen.

Mohoric ist bekannt für ungewöhnliche Siegerposen. Vergangenes Jahr, nachdem er seine zweite Etappe bei der Tour de France gewonnen hatte, hielt er den Zeigefinger vor seinen Mund. Dopingexperten hatten zuvor die Leistungen Mohorics, der Slowenen und von Mohorics Team Bahrain Victorious angezweifelt. Er wollte, dass sie dies unterlassen, begründete der Slowene seinen Jubel. Dopingjäger Antoine Vayer sagte nach dem Vorfall der SZ, Mohoric spiele sich auf wie ein "Mafiaboss" - "so wie einst Lance Armstrong".

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