Am Freitag vor dem großen Spiel waren die deutschen Fußballer ein letztes Mal mit der klapprigen Fähre über den Rio João de Tiba geschippert. Von ihrer Bungalowsiedlung am Strand von Santo André bis zum Flughafen der Provinzstadt Porto Seguro dauerte es wie immer eine Dreiviertelstunde.
Und längst wunderte sich niemand mehr, wie man auf diese wahnwitzige Idee kommen kann: sich in Brasilien mithilfe privater Investoren ein eigenes Teamquartier in die Abgeschiedenheit zu bauen.
Wer in São Paulo oder Rio mal drei Stunden im Stau feststeckte, der musste sich wünschen, er könnte sich in Brasilien so kalkulierbar fortbewegen wie die DFB-Elf auf dem Weg zu ihren WM-Spielen: Landstraße, Fähre, Landstraße. Kein Verkehr. Und so hat sich am Ende auch dieses Detail der deutschen WM-Planung als umsichtig herausgestellt.
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Dass der 22-jährige Mario Götze die Nationalelf am Sonntag im berühmten Estádio do Maracanã von Rio de Janeiro zu ihrem vierten Weltmeistertitel geschossen hat, das haben Milliarden Menschen an den Fernsehern verfolgt. Wie viel Planung hinter so einem Erfolg steckt, sieht man erst auf den zweiten Blick.
Kern der deutschen WM-Mission war das "Campo Bahia"
Kern der deutschen WM-Mission war das "Campo Bahia": eine Ansammlung von Wohngemeinschaften unter Palmen, eine von Künstlern gestaltete Bar, Pool, Dartscheibe, Tischtennisplatte, alles unter freiem Himmel. Der Trainingsplatz lag ganz in der Nähe, der Strand ebenfalls. Viele Medien hatten der DFB-Elf ein Inferno an landestypischen Plagen prophezeit: Straßensperren von Indianern, Überfälle von Drogendealern, Schwärme von Stechmücken. Nichts davon trat ein.
Rechtzeitig fertig wurde das Areal entgegen aller Befürchtungen auch. Und nach vier Wochen WM sagte Bastian Schweinsteiger vom FC Bayern über den Kollegen Kevin Großkreutz von Borussia Dortmund: Er habe ja früher immer gedacht, der sei komisch, erst jetzt habe er gemerkt, was für ein netter Typ der in Wahrheit sei.
Das "Campo Bahia" war demnach in erster Linie ein gruppendynamisches Projekt. Nur nach und nach war ja an die Öffentlichkeit gekommen, welche Spannungen noch bei der Europameisterschaft 2012 in der deutschen Mannschaft geherrscht hatten. Nun empfahl der Teampsychologe: größtmögliche Nähe, aber bei gleichzeitiger Minimierung des Lagerkoller-Potenzials.
Von den 32 WM-Teams haben viele in Stadthotels gewohnt, in denen die Freizeit der Spieler darin bestand, in Grüppchen auf den Zimmern zu hocken. Im deutschen Freiluftcamp entstand derweil jenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach Auskunft aller Beteiligten großen Anteil hatte am Erfolg.
Natürlich wurde der Bundestrainer Joachim Löw am Sonntag in Rio gefragt, was das Geheimnis sei hinter diesem WM-Titel. Löw ist dann auf die sogenannten deutschen Tugenden zu sprechen gekommen. Die "deutschen Tugenden" galten lange als das Erfolgsgeheimnis des deutschen Fußballs: Die Deutschen, hieß es, können zwar nicht so schön spielen wie andere, dafür können sie besser die Zähne zusammenbeißen, und deshalb gewinnen sie oft.
Aber die Zähne zusammenbeißen, sagte Löw, "das können heute alle". Es ist deshalb auch Löws Verdienst, dass die deutsche Elf nun schon seit Jahren einen modernen, attraktiven Fußball im Programm hat.
Aber wenn man den Begriff der "Tugenden" mal von seinem deutschtümelnden Beiwerk befreit, bleibt diese Erkenntnis: Die Deutschen haben in Brasilien nichts dem Zufall überlassen. Unterkunft, Reiseabläufe, Teambuilding. Die Deutschen sind nicht nur Fußball-, sie sind auch Planungsweltmeister. Im Kleinen wie im Großen. Auch, dass es diese Generation herausragender Fußballer überhaupt gibt, ist ja das Ergebnis strategischer Planung.
2000 war die deutsche Elf bei der EM krachend in der Vorrunde gescheitert, danach machte es der DFB zur Auflage für seine Profi-Vereine, die Nachwuchsarbeit zu modernisieren und Internate zu gründen. Spieler wie Mario Götze, Jérôme Boateng oder Sami Khedira waren mit die Ersten, die diese Projekte durchliefen.
Sympathien für Weltmeister Deutschland:Herzliche Konquistadoren aus Alemanha
Die DFB-Elf wirkt als perfekter Botschafter in Südamerika: Die Besucher aus dem fernen Europa kamen wie Konquistadoren nach Brasilien, aber sie eroberten das Land mit Zurückhaltung, Mitgefühl und Manieren. Jetzt sieht es so aus, als seien viele Latinos gerne ein bisschen deutsch.
Planungsweltmeister waren die Deutschen auch im Auftreten. Dass sie in Santo André eine Schule finanziell unterstützten, mag auch Kalkül gewesen sein, und dass sie ihre Auswärtstrikots in den Farben des beliebtesten brasilianischen Klubs gestaltetet haben, war auch ein Marketing-Coup. Wohlwollend registriert wurde es in Brasilien trotzdem. Und als die Deutschen nun in Rio ihre Weltmeister-T-Shirts überstreiften, stand auf der Rückseite ein Dank an Brasilien in portugiesischer Sprache.
Auch das Sympathisch-Sein haben die Deutschen geplant, und daran ist wirklich gar nichts auszusetzen.