In den Kreisen der kasachischen Delegation müssen sie in diesen Tagen manchmal selbst schmunzeln. Ihr Land spielt in der globalen Sportwelt bisher nur eine untergeordnete Rolle und hat kaum Erfahrungen in der Organisation großer Events, die Menschenrechtslage ist katastrophal und das Regime autoritär - doch kurz bevor das Internationale Olympische Komitee (IOC) am Freitag auf seiner Session in Kuala Lumpur den Ausrichter der Winterspiele 2022 kürt, halten viele Beobachter fest: Eigentlich wäre der kasachische Kandidat Almaty noch die vernünftigste Wahl.
Der Ringe-Familie steht eine heikle Entscheidung bevor. Das Image des IOC ist mies, und es würde es so gerne aufbessern - doch nun hat es nur die Wahl zwischen Almaty und Peking. All die möglichen Bewerber aus demokratischen Gesellschaften haben sich zurückgezogen, von München über Stockholm bis Oslo, und nun bleiben nur noch die beiden Vertreter autokratischer Regime. In Menschenrechtsfragen nehmen sie sich nicht viel, großartige Abstufungen wollen Experten da gar nicht mehr vornehmen. Aber das IOC ficht das nicht an. Es gebe zwei "hervorragende Kandidaten", teilte Präsident Thomas Bach kürzlich mit.
Die Stadt Almaty - grob übersetzt "Großvater der Äpfel" - ist durchaus ein Ort mit Wintersporttradition. Es gibt dort das schon etwas in die Jahre gekommene Medeo-Eisoval, das wegen seiner Höhenlage schon für Dutzende Weltrekorde im Eisschnelllauf diente, ebenso eine spektakuläre Anlage für die Skispringer am Stadtrand. Acht der 14 benötigten Sportstätten seien schon fertig, heißt es, drei kämen ohnehin noch für die anstehende Universiade 2017 dazu. Alle Objekte sollen sich in einem Radius von 30 Kilometer ums olympische Dorf befinden, so kompakt ging es bei Winterspielen noch nie zu.
Auf 70 Prozent beziffern die Kasachen den Vorbereitungsstand. Wenngleich es immer etwas verblüfft, wie der Rechenweg zu solchen Zahlen ist, und noch mehr zu tun ist als suggeriert wird, so darf Almaty von sich behaupten, es verfüge schon über eine gute infrastrukturelle Grundlage. Und ganz nebenbei gibt es in der Stadt der Äpfel etwas, das bei der Vergabe von Winterspiele kein ganz schlechtes Argument ist: hohe Berge und viel Schnee.
Bei Peking sieht das alles ein bisschen anders aus. In der chinesischen Hauptstadt schneit es quasi nie, in Yanqing, wo die alpinen Wettbewerbe vorgesehen sind, nicht viel öfter - aber wofür hat die Menschheit denn Kunstschnee erfunden? Das geplante Langlauf- und Biathlonzentrum in Zhangjiakou liegt vier Autostunden von Peking entfernt, doch im Falle eines Zuschlages wollen sie einen Schnellzug bauen, der die Strecke in gut einer Stunde schafft. Fertig ist in und um Peking so gut wie nichts, ein gigantischer Kraftakt müsste her, um den Ausrichter der Spiele von 2008 zur ersten Stadt hochzurüsten, die Sommer- und Winter-Olympia veranstaltet. Die Kosten wären hoch, die Eingriffe in die Natur groß, auch ein paar Dörfer müssten weichen. Es erinnert alles ein bisschen an Sotschi.
Es ist also wirklich erstaunlich: Wenn das IOC seine Agenda 2020 und sein Gerede von Reformen gegen Gigantismus wirklich ernst meint, müsste es sich in dieser Wahl zwischen den kleineren Übeln sofort für Almaty entscheiden. Aber als Favorit gilt dennoch Peking.
Der Markt in China ist groß, die Staatsführung verspricht 300 Millionen Wintersportbegeisterte. Zudem ist unverkennbar, dass beim IOC und seinem Präsidenten Bach unter allen undemokratischen Nationen neben Wladimir Putins Russland auch China einen besonderen Stellenwert genießt. Als Bach im Herbst 2013 vom Vize-Posten an die Spitze des IOC rückte, da übernahm seine Nachfolge Yu Zaiqing, der stellvertretende Sportminister Chinas. Und zu Bachs ersten Arbeitsnachweisen gehörte es, dem chinesischen Staatspräsidenten und Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Xi Jinping, den olympischen Orden zu überreichen - "für seine Verdienste um Olympia und den Weltsport".
Kasachstans Staatspräsident Nursultan Nasarbajew wiederum hat, ganz entgegen der Tradition autoritärer Herrscher, über den Bewerbungsprozess hinweg nicht unbedingt die absolute Olympia-Begeisterung verstreut. Als im Februar die Evaluierungskommission anrückte, war der kasachische Außenminister der höchstrangige anwesende Politiker. Zwischendurch gab Nasarbajew ein bemerkenswertes Interview, dass er sich durchaus vorstellen könne, die Wettbewerbe nicht nur in der früheren Hauptstadt Almaty, sondern auch in der aktuellen Hauptstadt Astana mitten in der Steppe auszurichten. Leider trennen die alte und die neue Kapitale fast 1000 Kilometer Luftlinie.
Nasarbajew ist ein Diktator, der gerade noch ein paar andere Sorgen hat als Winterspiele. Die wirtschaftliche Lage in seinem Reich ist schwierig. Der niedrige Ölpreis macht dem rohstoffreichen Land zu schaffen, im Zuge der Abwertung des Rubels ist die kasachische Währung Tenge instabil geworden. Zu den größten Investoren im Land zählt dabei ausgerechnet: China, der Olympia-Rivale.